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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
Auf der Ohnmacht Deutschlands und Italiens ruhte die neue Macht-
stellung von Oesterreich und Frankreich, von Schweden, Dänemark und
Polen, wie die Seeherrschaft der Briten und die Unabhängigkeit der
Schweiz und der Niederlande. Eine stille Verschwörung des gesammten
Auslandes hielt die Mitte des Festlands gebunden. Die Fremden lachten
der querelles allemandes und der misere allemande; der Franzose
Bouhours stellte die höhnische Frage: ob es möglich sei, daß ein Deutscher
Geist haben könne? Niemals früher war die Nation von den Nachbarn
so tief verachtet worden; nur den alten Ruhm deutscher Waffentüchtigkeit
wagte man nicht zu bestreiten. Der politische Zustand aber, der dies
schmähliche Sinken des deutschen Ansehens verschuldete, ward überall in
der Welt als die feste Bürgschaft des europäischen Friedens gepriesen;
und dies Volk, das vormals durch seinen Hochmuth so übel berüchtigt
gewesen wie heute die Briten, sprach gelehrig nach, was die Eifersucht
der Nachbarn erfand, gewöhnte sich das Vaterland mit den Augen der
Fremden zu betrachten. Die deutsche Staatswissenschaft des achtzehnten
Jahrhunderts bereichert die alten Wahnbegriffe von deutscher Freiheit noch
durch das neue Schlagwort der Freiheit Europas. Alle unsere Publicisten
bis herab auf Pütter und Johannes Müller warnen die friedliebende
Welt vor der verderblichen Macht der deutschen Einheit und schließen das
Lob des heiligen Reichs mit der inbrünstigen Mahnung: wehe der Freiheit
des Welttheils, wenn die hunderttausende deutscher Bajonette jemals
Einem Herrscher gehorchten!

Eine unerforschlich weise Waltung züchtigt die Völker durch dieselben
Gaben, welche sie einst frevelhaft mißbrauchten. Die Weltstellung, die
angeborene Eigenart und der Gang der Geschichte gaben unserem Volke
von früh auf einen Zug vielseitiger weltbürgerlicher Weitherzigkeit. Die
deutsche Nation besaß ein natürliches Verständniß für die romanische
Welt: war doch einst das romanische Volksthum durch deutsche Eroberer
auf den Trümmern der römischen Gesittung begründet worden; sie war
den Briten wie dem skandinavischen Norden blutsverwandt, mit den
Slaven von Alters her durch Krieg und Handel wohlvertraut; im Mittel-
alter hatte sie als ein Volk der Mitte vom Süden und Westen her Cultur
empfangen, dem Norden und Osten Cultur gegeben. So wurde sie das
weltbürgerlichste der Völker, empfänglicher noch für fremdes Wesen als
ihre Schicksalsgenossen, die Italiener. Der Drang in die Ferne ward
uns zum Verhängniß, in ihm lag die Schuld und die Größe des deutschen
Lebens. Auf die Jahrhunderte der deutschen Weltherrschaftspläne folgte
nunmehr eine Zeit des leidenden Weltbürgerthums. Das Volk der
Mitte empfing die Befehle aller Welt. Sämmtliche mächtige Fürsten des
Welttheils gehörten als Reichsstände oder als Friedensbürgen dem deutschen
Reiche an und meisterten sein Leben. Die Nation aber lebte sich ein in
die Fremdherrschaft, hing mit deutscher Treue an den Fahnen des Aus-

I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Auf der Ohnmacht Deutſchlands und Italiens ruhte die neue Macht-
ſtellung von Oeſterreich und Frankreich, von Schweden, Dänemark und
Polen, wie die Seeherrſchaft der Briten und die Unabhängigkeit der
Schweiz und der Niederlande. Eine ſtille Verſchwörung des geſammten
Auslandes hielt die Mitte des Feſtlands gebunden. Die Fremden lachten
der querelles allemandes und der misère allemande; der Franzoſe
Bouhours ſtellte die höhniſche Frage: ob es möglich ſei, daß ein Deutſcher
Geiſt haben könne? Niemals früher war die Nation von den Nachbarn
ſo tief verachtet worden; nur den alten Ruhm deutſcher Waffentüchtigkeit
wagte man nicht zu beſtreiten. Der politiſche Zuſtand aber, der dies
ſchmähliche Sinken des deutſchen Anſehens verſchuldete, ward überall in
der Welt als die feſte Bürgſchaft des europäiſchen Friedens geprieſen;
und dies Volk, das vormals durch ſeinen Hochmuth ſo übel berüchtigt
geweſen wie heute die Briten, ſprach gelehrig nach, was die Eiferſucht
der Nachbarn erfand, gewöhnte ſich das Vaterland mit den Augen der
Fremden zu betrachten. Die deutſche Staatswiſſenſchaft des achtzehnten
Jahrhunderts bereichert die alten Wahnbegriffe von deutſcher Freiheit noch
durch das neue Schlagwort der Freiheit Europas. Alle unſere Publiciſten
bis herab auf Pütter und Johannes Müller warnen die friedliebende
Welt vor der verderblichen Macht der deutſchen Einheit und ſchließen das
Lob des heiligen Reichs mit der inbrünſtigen Mahnung: wehe der Freiheit
des Welttheils, wenn die hunderttauſende deutſcher Bajonette jemals
Einem Herrſcher gehorchten!

Eine unerforſchlich weiſe Waltung züchtigt die Völker durch dieſelben
Gaben, welche ſie einſt frevelhaft mißbrauchten. Die Weltſtellung, die
angeborene Eigenart und der Gang der Geſchichte gaben unſerem Volke
von früh auf einen Zug vielſeitiger weltbürgerlicher Weitherzigkeit. Die
deutſche Nation beſaß ein natürliches Verſtändniß für die romaniſche
Welt: war doch einſt das romaniſche Volksthum durch deutſche Eroberer
auf den Trümmern der römiſchen Geſittung begründet worden; ſie war
den Briten wie dem ſkandinaviſchen Norden blutsverwandt, mit den
Slaven von Alters her durch Krieg und Handel wohlvertraut; im Mittel-
alter hatte ſie als ein Volk der Mitte vom Süden und Weſten her Cultur
empfangen, dem Norden und Oſten Cultur gegeben. So wurde ſie das
weltbürgerlichſte der Völker, empfänglicher noch für fremdes Weſen als
ihre Schickſalsgenoſſen, die Italiener. Der Drang in die Ferne ward
uns zum Verhängniß, in ihm lag die Schuld und die Größe des deutſchen
Lebens. Auf die Jahrhunderte der deutſchen Weltherrſchaftspläne folgte
nunmehr eine Zeit des leidenden Weltbürgerthums. Das Volk der
Mitte empfing die Befehle aller Welt. Sämmtliche mächtige Fürſten des
Welttheils gehörten als Reichsſtände oder als Friedensbürgen dem deutſchen
Reiche an und meiſterten ſein Leben. Die Nation aber lebte ſich ein in
die Fremdherrſchaft, hing mit deutſcher Treue an den Fahnen des Aus-

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[22/0038] I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. Auf der Ohnmacht Deutſchlands und Italiens ruhte die neue Macht- ſtellung von Oeſterreich und Frankreich, von Schweden, Dänemark und Polen, wie die Seeherrſchaft der Briten und die Unabhängigkeit der Schweiz und der Niederlande. Eine ſtille Verſchwörung des geſammten Auslandes hielt die Mitte des Feſtlands gebunden. Die Fremden lachten der querelles allemandes und der misère allemande; der Franzoſe Bouhours ſtellte die höhniſche Frage: ob es möglich ſei, daß ein Deutſcher Geiſt haben könne? Niemals früher war die Nation von den Nachbarn ſo tief verachtet worden; nur den alten Ruhm deutſcher Waffentüchtigkeit wagte man nicht zu beſtreiten. Der politiſche Zuſtand aber, der dies ſchmähliche Sinken des deutſchen Anſehens verſchuldete, ward überall in der Welt als die feſte Bürgſchaft des europäiſchen Friedens geprieſen; und dies Volk, das vormals durch ſeinen Hochmuth ſo übel berüchtigt geweſen wie heute die Briten, ſprach gelehrig nach, was die Eiferſucht der Nachbarn erfand, gewöhnte ſich das Vaterland mit den Augen der Fremden zu betrachten. Die deutſche Staatswiſſenſchaft des achtzehnten Jahrhunderts bereichert die alten Wahnbegriffe von deutſcher Freiheit noch durch das neue Schlagwort der Freiheit Europas. Alle unſere Publiciſten bis herab auf Pütter und Johannes Müller warnen die friedliebende Welt vor der verderblichen Macht der deutſchen Einheit und ſchließen das Lob des heiligen Reichs mit der inbrünſtigen Mahnung: wehe der Freiheit des Welttheils, wenn die hunderttauſende deutſcher Bajonette jemals Einem Herrſcher gehorchten! Eine unerforſchlich weiſe Waltung züchtigt die Völker durch dieſelben Gaben, welche ſie einſt frevelhaft mißbrauchten. Die Weltſtellung, die angeborene Eigenart und der Gang der Geſchichte gaben unſerem Volke von früh auf einen Zug vielſeitiger weltbürgerlicher Weitherzigkeit. Die deutſche Nation beſaß ein natürliches Verſtändniß für die romaniſche Welt: war doch einſt das romaniſche Volksthum durch deutſche Eroberer auf den Trümmern der römiſchen Geſittung begründet worden; ſie war den Briten wie dem ſkandinaviſchen Norden blutsverwandt, mit den Slaven von Alters her durch Krieg und Handel wohlvertraut; im Mittel- alter hatte ſie als ein Volk der Mitte vom Süden und Weſten her Cultur empfangen, dem Norden und Oſten Cultur gegeben. So wurde ſie das weltbürgerlichſte der Völker, empfänglicher noch für fremdes Weſen als ihre Schickſalsgenoſſen, die Italiener. Der Drang in die Ferne ward uns zum Verhängniß, in ihm lag die Schuld und die Größe des deutſchen Lebens. Auf die Jahrhunderte der deutſchen Weltherrſchaftspläne folgte nunmehr eine Zeit des leidenden Weltbürgerthums. Das Volk der Mitte empfing die Befehle aller Welt. Sämmtliche mächtige Fürſten des Welttheils gehörten als Reichsſtände oder als Friedensbürgen dem deutſchen Reiche an und meiſterten ſein Leben. Die Nation aber lebte ſich ein in die Fremdherrſchaft, hing mit deutſcher Treue an den Fahnen des Aus-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/38>, abgerufen am 28.03.2024.