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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Lüge des Reichsrechts.
die Mächtigen zu dem trotzigen Bekenntniß: was dem Reiche zugeht
wird unserer Freiheit genommen. Ein dichter Nebel von Phrasen und
Lügen lag über den gothischen Zinken und Zacken des alten Reichsbaues;
in keinem Staate der modernen Welt ist so beharrlich und feierlich von
Amtswegen gelogen worden. Die frommen reichsväterlichen Vermahnun-
gen der entdeutschten kaiserlichen Majestät, die inbrünstigen reichspatrio-
tischen Betheuerungen der mit dem Auslande verschworenen Reichsstände,
die prahlerischen Reden von deutscher Libertät und dem ungebeugten
Nacken der Nation, Alles, Alles in diesem Regensburger Treiben erscheint
dem redlichen Sinne als eine grobe Unwahrheit.

Seit jenen müden Tagen nach dem Augsburger Frieden, die den alten
deutschen Stolz in zagen Philistersinn verwandelten, kam in unserem Volke
die kleinmüthige Neigung auf, nach Trostgründen zu suchen für das Unleid-
liche und Schmachvolle; die deutsche Geduld ließ sichs nicht nehmen, selbst
den Aberwitz dieser Reichsverfassung wissenschaftlich zu erklären und zu
rechtfertigen. Vergeblich erhob Samuel Pufendorf seine mahnende Stimme
und schilderte das Reich wie es war, als ein politisches Ungeheuer. Da
die Leidenschaft der Glaubenskriege allgemach verrauchte und die Unwahr-
heit der theokratischen Reichsformen im täglichen Leben wenig mehr
empfunden wurde, so ließ sich die zünftige Rechtsgelahrtheit in ihrer
unterthänigen Ruheseligkeit nicht stören. Noch immer versicherten einzelne
Cäsarianer aus Reinkingks Schule, das heilige Reich sei eine Monarchie
und sein Kaiser der rechtmäßige Nachfolger des Divus Augustus. Andere
priesen die Ohnmacht des Reichs und die Zuchtlosigkeit seiner Glieder als
das Palladium deutscher Freiheit. Die Meisten fanden in dem beglückten
Deutschland das Idealbild des gemischten Staates verwirklicht, der alle
Vorzüge anderer Staatsformen in sich vereinigen sollte. Selbst ein
Leibnitz vermochte dem Bannkreise dieser wissenschaftlichen Traumwelt
nicht zu entfliehen.

Die Fäulniß eines solchen Staatslebens begann bereits den recht-
schaffenen Gradsinn des Volkscharakters zu zerstören. Ein Menschenalter
voll namenloser Leiden hatte den bürgerlichen Muth gebrochen, den kleinen
Mann gewöhnt vor dem Mächtigen zu kriechen. Unsere freimüthige Sprache
lernte in allerunterthänigster Ergebenheit zu ersterben und bildete sich
jenen überreichen Wortschatz von verschnörkelten knechtischen Redensarten,
den sie noch heute nicht gänzlich abgeschüttelt hat. Die gewissenlose Staats-
räson des Jahrhunderts vergiftete auch den bürgerlichen Verkehr. Das
geldgierige Geschlecht warb, wetteifernd in Bestechung und Ränkespiel, um
die Gnade der Großen; kaum daß sich noch in der Stille des häuslichen
Lebens ein Hauch treuherziger Gemüthlichkeit verspüren ließ. Der Edel-
mann strebte die Herrschaft, die er in den Landtagen gegen die aufsteigende
Monarchie nicht mehr behaupten konnte, durch höfischen Einfluß und durch
die Mißhandlung des Landvolks von Neuem zu befestigen; niemals in

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Die Lüge des Reichsrechts.
die Mächtigen zu dem trotzigen Bekenntniß: was dem Reiche zugeht
wird unſerer Freiheit genommen. Ein dichter Nebel von Phraſen und
Lügen lag über den gothiſchen Zinken und Zacken des alten Reichsbaues;
in keinem Staate der modernen Welt iſt ſo beharrlich und feierlich von
Amtswegen gelogen worden. Die frommen reichsväterlichen Vermahnun-
gen der entdeutſchten kaiſerlichen Majeſtät, die inbrünſtigen reichspatrio-
tiſchen Betheuerungen der mit dem Auslande verſchworenen Reichsſtände,
die prahleriſchen Reden von deutſcher Libertät und dem ungebeugten
Nacken der Nation, Alles, Alles in dieſem Regensburger Treiben erſcheint
dem redlichen Sinne als eine grobe Unwahrheit.

Seit jenen müden Tagen nach dem Augsburger Frieden, die den alten
deutſchen Stolz in zagen Philiſterſinn verwandelten, kam in unſerem Volke
die kleinmüthige Neigung auf, nach Troſtgründen zu ſuchen für das Unleid-
liche und Schmachvolle; die deutſche Geduld ließ ſichs nicht nehmen, ſelbſt
den Aberwitz dieſer Reichsverfaſſung wiſſenſchaftlich zu erklären und zu
rechtfertigen. Vergeblich erhob Samuel Pufendorf ſeine mahnende Stimme
und ſchilderte das Reich wie es war, als ein politiſches Ungeheuer. Da
die Leidenſchaft der Glaubenskriege allgemach verrauchte und die Unwahr-
heit der theokratiſchen Reichsformen im täglichen Leben wenig mehr
empfunden wurde, ſo ließ ſich die zünftige Rechtsgelahrtheit in ihrer
unterthänigen Ruheſeligkeit nicht ſtören. Noch immer verſicherten einzelne
Cäſarianer aus Reinkingks Schule, das heilige Reich ſei eine Monarchie
und ſein Kaiſer der rechtmäßige Nachfolger des Divus Auguſtus. Andere
prieſen die Ohnmacht des Reichs und die Zuchtloſigkeit ſeiner Glieder als
das Palladium deutſcher Freiheit. Die Meiſten fanden in dem beglückten
Deutſchland das Idealbild des gemiſchten Staates verwirklicht, der alle
Vorzüge anderer Staatsformen in ſich vereinigen ſollte. Selbſt ein
Leibnitz vermochte dem Bannkreiſe dieſer wiſſenſchaftlichen Traumwelt
nicht zu entfliehen.

Die Fäulniß eines ſolchen Staatslebens begann bereits den recht-
ſchaffenen Gradſinn des Volkscharakters zu zerſtören. Ein Menſchenalter
voll namenloſer Leiden hatte den bürgerlichen Muth gebrochen, den kleinen
Mann gewöhnt vor dem Mächtigen zu kriechen. Unſere freimüthige Sprache
lernte in allerunterthänigſter Ergebenheit zu erſterben und bildete ſich
jenen überreichen Wortſchatz von verſchnörkelten knechtiſchen Redensarten,
den ſie noch heute nicht gänzlich abgeſchüttelt hat. Die gewiſſenloſe Staats-
räſon des Jahrhunderts vergiftete auch den bürgerlichen Verkehr. Das
geldgierige Geſchlecht warb, wetteifernd in Beſtechung und Ränkeſpiel, um
die Gnade der Großen; kaum daß ſich noch in der Stille des häuslichen
Lebens ein Hauch treuherziger Gemüthlichkeit verſpüren ließ. Der Edel-
mann ſtrebte die Herrſchaft, die er in den Landtagen gegen die aufſteigende
Monarchie nicht mehr behaupten konnte, durch höfiſchen Einfluß und durch
die Mißhandlung des Landvolks von Neuem zu befeſtigen; niemals in

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[19/0035] Die Lüge des Reichsrechts. die Mächtigen zu dem trotzigen Bekenntniß: was dem Reiche zugeht wird unſerer Freiheit genommen. Ein dichter Nebel von Phraſen und Lügen lag über den gothiſchen Zinken und Zacken des alten Reichsbaues; in keinem Staate der modernen Welt iſt ſo beharrlich und feierlich von Amtswegen gelogen worden. Die frommen reichsväterlichen Vermahnun- gen der entdeutſchten kaiſerlichen Majeſtät, die inbrünſtigen reichspatrio- tiſchen Betheuerungen der mit dem Auslande verſchworenen Reichsſtände, die prahleriſchen Reden von deutſcher Libertät und dem ungebeugten Nacken der Nation, Alles, Alles in dieſem Regensburger Treiben erſcheint dem redlichen Sinne als eine grobe Unwahrheit. Seit jenen müden Tagen nach dem Augsburger Frieden, die den alten deutſchen Stolz in zagen Philiſterſinn verwandelten, kam in unſerem Volke die kleinmüthige Neigung auf, nach Troſtgründen zu ſuchen für das Unleid- liche und Schmachvolle; die deutſche Geduld ließ ſichs nicht nehmen, ſelbſt den Aberwitz dieſer Reichsverfaſſung wiſſenſchaftlich zu erklären und zu rechtfertigen. Vergeblich erhob Samuel Pufendorf ſeine mahnende Stimme und ſchilderte das Reich wie es war, als ein politiſches Ungeheuer. Da die Leidenſchaft der Glaubenskriege allgemach verrauchte und die Unwahr- heit der theokratiſchen Reichsformen im täglichen Leben wenig mehr empfunden wurde, ſo ließ ſich die zünftige Rechtsgelahrtheit in ihrer unterthänigen Ruheſeligkeit nicht ſtören. Noch immer verſicherten einzelne Cäſarianer aus Reinkingks Schule, das heilige Reich ſei eine Monarchie und ſein Kaiſer der rechtmäßige Nachfolger des Divus Auguſtus. Andere prieſen die Ohnmacht des Reichs und die Zuchtloſigkeit ſeiner Glieder als das Palladium deutſcher Freiheit. Die Meiſten fanden in dem beglückten Deutſchland das Idealbild des gemiſchten Staates verwirklicht, der alle Vorzüge anderer Staatsformen in ſich vereinigen ſollte. Selbſt ein Leibnitz vermochte dem Bannkreiſe dieſer wiſſenſchaftlichen Traumwelt nicht zu entfliehen. Die Fäulniß eines ſolchen Staatslebens begann bereits den recht- ſchaffenen Gradſinn des Volkscharakters zu zerſtören. Ein Menſchenalter voll namenloſer Leiden hatte den bürgerlichen Muth gebrochen, den kleinen Mann gewöhnt vor dem Mächtigen zu kriechen. Unſere freimüthige Sprache lernte in allerunterthänigſter Ergebenheit zu erſterben und bildete ſich jenen überreichen Wortſchatz von verſchnörkelten knechtiſchen Redensarten, den ſie noch heute nicht gänzlich abgeſchüttelt hat. Die gewiſſenloſe Staats- räſon des Jahrhunderts vergiftete auch den bürgerlichen Verkehr. Das geldgierige Geſchlecht warb, wetteifernd in Beſtechung und Ränkeſpiel, um die Gnade der Großen; kaum daß ſich noch in der Stille des häuslichen Lebens ein Hauch treuherziger Gemüthlichkeit verſpüren ließ. Der Edel- mann ſtrebte die Herrſchaft, die er in den Landtagen gegen die aufſteigende Monarchie nicht mehr behaupten konnte, durch höfiſchen Einfluß und durch die Mißhandlung des Landvolks von Neuem zu befeſtigen; niemals in 2*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/35>, abgerufen am 29.03.2024.