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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Das Kaiserthum.
Pufendorf sah das Reich "sicher wie einen rollenden Stein" der Umge-
staltung in einen Staatenbund entgegeneilen. Auch das amtliche
Deutschland empfand dunkel, wie sinnlos die alten Formen in der neuen
Zeit geworden. Die Religionsfriedensschlüsse gaben sich selber nur für
Waffenstillstände, vertrösteten die Nation auf bessere Zeiten, da "durch
Gottes Gnade eine Vereinigung in Glaubenssachen zu Stande kommen
wird". Der Westphälische Friede beauftragte den nächsten Reichstag,
durch eine umfassende Verfassungsrevision die neu errungene Macht der
Reichsstände in Einklang zu bringen mit den alten Rechten der Kaiser-
krone. Doch das Haus Oesterreich verhinderte auch diesmal den Versuch
der Reform. Die Reichsversammlung von 1654 ging unverrichteter
Dinge auseinander, und da der folgende Reichstag durch anderthalb
Jahrhunderte zu Regensburg tagte, ohne seine wichtigste Aufgabe jemals
in Angriff zu nehmen, so blieb der deutsche Staat in Wahrheit ver-
fassungslos. In seinem öffentlichen Rechte lagen die Trümmerstücke
dreier grundverschiedener Staatsformen wirr und unverbunden neben
einander: die schattenhaften Ueberbleibsel der alten monarchischen Einheit,
die verkümmerten Anfänge einer neuen staatenbündischen Ordnung, endlich,
lebendiger als Beide, der Particularismus der territorialen Staats-
gewalten.

Das Kaiserthum hielt in allem Wandel der Zeiten die alten An-
sprüche monarchischer Machtvollkommenheit fest und gestattete niemals,
daß ein Reichsgesetz ihm den Umfang seiner Rechte fest begrenzte. Der
kaiserliche Oberlehnsherr empfing noch immer sitzend, mit bedecktem
Haupte die Huldigung seiner knieenden Unterthanen, der Reichsstände;
er übte, soweit sein Arm reichte, die Gerichtsbarkeit durch seinen Reichs-
hofrath, als sei er wirklich noch der höchste Richter über Eigen und Lehen
und über jeglichen Mannes Leib, wie einst in den Tagen des Sachsen-
spiegels. Noch immer schwenkte der Herold bei der Krönung das Kaiser-
schwert nach allen vier Winden, weil die weite Christenheit dem Doppel-
adler gehorche; noch sprach das Reichsrecht mit feierlichem Ernst von den
Lehen des Reichs, die auf den Felsterrassen der Riviera von Genua und
tief in Toscana hinein lagen; noch bestanden die drei Reichskanzlerämter
für Germanien, Italien und Arelat; Nomeny und Bisanz und so viele
andere, längst den Fremden preisgegebene Stände wurden noch auf den
Reichstagen zur Abstimmung aufgerufen; der Herzog von Savoyen galt
als Reichsvicar in Wälschland, und Niemand wußte zu sagen, wo des
heiligen Reiches Grenzpfähle standen. Dem Dichterauge des jungen Goethe
wurde in dem altfränkischen Schaugepränge der Kaiserkrönung die farben-
reiche Herrlichkeit des alten Reiches wieder lebendig; wer aber mit dem
nüchternen Sinne des Weltmannes zuschaute, gleich dem Ritter Lang,
dem erschien dies Kaiserthum der verblaßten Erinnerungen und der gren-
zenlosen Ansprüche als ein fratzenhafter Mummenschanz, ebenso lächerlich

Das Kaiſerthum.
Pufendorf ſah das Reich „ſicher wie einen rollenden Stein“ der Umge-
ſtaltung in einen Staatenbund entgegeneilen. Auch das amtliche
Deutſchland empfand dunkel, wie ſinnlos die alten Formen in der neuen
Zeit geworden. Die Religionsfriedensſchlüſſe gaben ſich ſelber nur für
Waffenſtillſtände, vertröſteten die Nation auf beſſere Zeiten, da „durch
Gottes Gnade eine Vereinigung in Glaubensſachen zu Stande kommen
wird“. Der Weſtphäliſche Friede beauftragte den nächſten Reichstag,
durch eine umfaſſende Verfaſſungsreviſion die neu errungene Macht der
Reichsſtände in Einklang zu bringen mit den alten Rechten der Kaiſer-
krone. Doch das Haus Oeſterreich verhinderte auch diesmal den Verſuch
der Reform. Die Reichsverſammlung von 1654 ging unverrichteter
Dinge auseinander, und da der folgende Reichstag durch anderthalb
Jahrhunderte zu Regensburg tagte, ohne ſeine wichtigſte Aufgabe jemals
in Angriff zu nehmen, ſo blieb der deutſche Staat in Wahrheit ver-
faſſungslos. In ſeinem öffentlichen Rechte lagen die Trümmerſtücke
dreier grundverſchiedener Staatsformen wirr und unverbunden neben
einander: die ſchattenhaften Ueberbleibſel der alten monarchiſchen Einheit,
die verkümmerten Anfänge einer neuen ſtaatenbündiſchen Ordnung, endlich,
lebendiger als Beide, der Particularismus der territorialen Staats-
gewalten.

Das Kaiſerthum hielt in allem Wandel der Zeiten die alten An-
ſprüche monarchiſcher Machtvollkommenheit feſt und geſtattete niemals,
daß ein Reichsgeſetz ihm den Umfang ſeiner Rechte feſt begrenzte. Der
kaiſerliche Oberlehnsherr empfing noch immer ſitzend, mit bedecktem
Haupte die Huldigung ſeiner knieenden Unterthanen, der Reichsſtände;
er übte, ſoweit ſein Arm reichte, die Gerichtsbarkeit durch ſeinen Reichs-
hofrath, als ſei er wirklich noch der höchſte Richter über Eigen und Lehen
und über jeglichen Mannes Leib, wie einſt in den Tagen des Sachſen-
ſpiegels. Noch immer ſchwenkte der Herold bei der Krönung das Kaiſer-
ſchwert nach allen vier Winden, weil die weite Chriſtenheit dem Doppel-
adler gehorche; noch ſprach das Reichsrecht mit feierlichem Ernſt von den
Lehen des Reichs, die auf den Felsterraſſen der Riviera von Genua und
tief in Toscana hinein lagen; noch beſtanden die drei Reichskanzlerämter
für Germanien, Italien und Arelat; Nomeny und Biſanz und ſo viele
andere, längſt den Fremden preisgegebene Stände wurden noch auf den
Reichstagen zur Abſtimmung aufgerufen; der Herzog von Savoyen galt
als Reichsvicar in Wälſchland, und Niemand wußte zu ſagen, wo des
heiligen Reiches Grenzpfähle ſtanden. Dem Dichterauge des jungen Goethe
wurde in dem altfränkiſchen Schaugepränge der Kaiſerkrönung die farben-
reiche Herrlichkeit des alten Reiches wieder lebendig; wer aber mit dem
nüchternen Sinne des Weltmannes zuſchaute, gleich dem Ritter Lang,
dem erſchien dies Kaiſerthum der verblaßten Erinnerungen und der gren-
zenloſen Anſprüche als ein fratzenhafter Mummenſchanz, ebenſo lächerlich

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[9/0025] Das Kaiſerthum. Pufendorf ſah das Reich „ſicher wie einen rollenden Stein“ der Umge- ſtaltung in einen Staatenbund entgegeneilen. Auch das amtliche Deutſchland empfand dunkel, wie ſinnlos die alten Formen in der neuen Zeit geworden. Die Religionsfriedensſchlüſſe gaben ſich ſelber nur für Waffenſtillſtände, vertröſteten die Nation auf beſſere Zeiten, da „durch Gottes Gnade eine Vereinigung in Glaubensſachen zu Stande kommen wird“. Der Weſtphäliſche Friede beauftragte den nächſten Reichstag, durch eine umfaſſende Verfaſſungsreviſion die neu errungene Macht der Reichsſtände in Einklang zu bringen mit den alten Rechten der Kaiſer- krone. Doch das Haus Oeſterreich verhinderte auch diesmal den Verſuch der Reform. Die Reichsverſammlung von 1654 ging unverrichteter Dinge auseinander, und da der folgende Reichstag durch anderthalb Jahrhunderte zu Regensburg tagte, ohne ſeine wichtigſte Aufgabe jemals in Angriff zu nehmen, ſo blieb der deutſche Staat in Wahrheit ver- faſſungslos. In ſeinem öffentlichen Rechte lagen die Trümmerſtücke dreier grundverſchiedener Staatsformen wirr und unverbunden neben einander: die ſchattenhaften Ueberbleibſel der alten monarchiſchen Einheit, die verkümmerten Anfänge einer neuen ſtaatenbündiſchen Ordnung, endlich, lebendiger als Beide, der Particularismus der territorialen Staats- gewalten. Das Kaiſerthum hielt in allem Wandel der Zeiten die alten An- ſprüche monarchiſcher Machtvollkommenheit feſt und geſtattete niemals, daß ein Reichsgeſetz ihm den Umfang ſeiner Rechte feſt begrenzte. Der kaiſerliche Oberlehnsherr empfing noch immer ſitzend, mit bedecktem Haupte die Huldigung ſeiner knieenden Unterthanen, der Reichsſtände; er übte, ſoweit ſein Arm reichte, die Gerichtsbarkeit durch ſeinen Reichs- hofrath, als ſei er wirklich noch der höchſte Richter über Eigen und Lehen und über jeglichen Mannes Leib, wie einſt in den Tagen des Sachſen- ſpiegels. Noch immer ſchwenkte der Herold bei der Krönung das Kaiſer- ſchwert nach allen vier Winden, weil die weite Chriſtenheit dem Doppel- adler gehorche; noch ſprach das Reichsrecht mit feierlichem Ernſt von den Lehen des Reichs, die auf den Felsterraſſen der Riviera von Genua und tief in Toscana hinein lagen; noch beſtanden die drei Reichskanzlerämter für Germanien, Italien und Arelat; Nomeny und Biſanz und ſo viele andere, längſt den Fremden preisgegebene Stände wurden noch auf den Reichstagen zur Abſtimmung aufgerufen; der Herzog von Savoyen galt als Reichsvicar in Wälſchland, und Niemand wußte zu ſagen, wo des heiligen Reiches Grenzpfähle ſtanden. Dem Dichterauge des jungen Goethe wurde in dem altfränkiſchen Schaugepränge der Kaiſerkrönung die farben- reiche Herrlichkeit des alten Reiches wieder lebendig; wer aber mit dem nüchternen Sinne des Weltmannes zuſchaute, gleich dem Ritter Lang, dem erſchien dies Kaiſerthum der verblaßten Erinnerungen und der gren- zenloſen Anſprüche als ein fratzenhafter Mummenſchanz, ebenſo lächerlich

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/25>, abgerufen am 28.03.2024.