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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
Er sah weder, daß die jüngsten Schritte des Königs jede ehrliche Ver-
ständigung mit dem rachsüchtigen Corsen abschnitten, noch daß dieser Held
nicht gewohnt war sich durch Unterhandlungen in der Verfolgung seiner
Siege aufhalten zu lassen. Der Hoffnungsvolle glaubte noch immer an
die Möglichkeit eines friedlichen Ausgangs und rieth daher, während nur
das rasche Eintreten in den Krieg noch Heil versprach, vielmehr zu einer
bewaffneten Vermittlung, welche leicht durch neue Kriegserfolge der Fran-
zosen überholt werden konnte. Unterdessen kam der Czar selbst nach Berlin,
und am 3. November wurde der Potsdamer Vertrag unterzeichnet. Preußen
verpflichtete sich, Napoleon durch diplomatische Verhandlungen zur Aner-
kennung des Besitzstandes von Luneville zu bewegen. Lehnte er ab, wie
vorauszusehen, so trat die vermittelnde Macht der Coalition bei und
empfing als Siegespreis eine Gebietsvergrößerung; Rußland verhieß durch
seine guten Dienste die Abtretung von Hannover in London durchzusetzen,
während die englischen Staatsmänner lieber Holland an Preußen geben
wollten. Genug, der große europäische Kriegsbund schien geschlossen. Der
Czar verzichtete auf seine polnischen Hintergedanken, sagte reumüthig: "man
wird mich nicht wieder darüber ertappen." Eine zärtliche Umarmung
über dem Sarge des großen Friedrich -- einer jener rührenden Auftritte,
wie sie Alexanders Schauspielernatur liebte -- besiegelte das Bündniß
zwischen den beiden wiederversöhnten Freunden.

Die preußische Armee konnte, nach der Rechnung des Herzogs von
Braunschweig, nicht vor dem 15. December in den Kampf eingreifen; denn
die an der Ostgrenze versammelten Truppen wurden nicht geradeswegs
nach Mähren geführt zur Vereinigung mit dem russisch-österreichischen
Heere, sondern auf weitem Umwege nach Thüringen um von dort aus
den Franzosen in den Rücken zu fallen. Diese weitläuftige Bewegung
entsprach den Wünschen Oesterreichs und der Vorliebe des Braunschweigers
für künstliche Evolutionen; sicherlich hat dem bedachtsamen alten Herrn
auch der Gedanke vorgeschwebt, vielleicht könne der Krieg doch noch ver-
mieden werden. Der König aber hielt den einmal gefaßten schweren Ent-
schluß mit zäher Treue fest. Er hatte den Einmarsch in Hannover be-
fohlen, Hessen und Sachsen für die Coalition gewonnen. Ein Heer von
200,000 Mann versammelte sich an den Südgrenzen der Monarchie um
die Unabhängigkeit des deutschen Nordens zu vertheidigen; dazu die eng-
lischen und russischen Truppen, die in Hannover landeten, dazu die
Schweden König Gustavs IV., des Todfeindes der Revolution. Gleich-
zeitig zog die russische Reservearmee durch Schlesien gegen Mähren, aus
Ungarn führte Erzherzog Karl das österreichische Südheer herbei.

Das Schicksal der Welt hing an der klugen Verzögerung des Kampfes.
Wurde Napoleon von den Alliirten in Mähren durch eine behutsame Defen-
sive hingehalten, bis alle jene Zuzüge herankamen, bis mit dem verhängniß-
vollen 15. December auch die preußische Armee in die Action eintrat, so schien

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Er ſah weder, daß die jüngſten Schritte des Königs jede ehrliche Ver-
ſtändigung mit dem rachſüchtigen Corſen abſchnitten, noch daß dieſer Held
nicht gewohnt war ſich durch Unterhandlungen in der Verfolgung ſeiner
Siege aufhalten zu laſſen. Der Hoffnungsvolle glaubte noch immer an
die Möglichkeit eines friedlichen Ausgangs und rieth daher, während nur
das raſche Eintreten in den Krieg noch Heil verſprach, vielmehr zu einer
bewaffneten Vermittlung, welche leicht durch neue Kriegserfolge der Fran-
zoſen überholt werden konnte. Unterdeſſen kam der Czar ſelbſt nach Berlin,
und am 3. November wurde der Potsdamer Vertrag unterzeichnet. Preußen
verpflichtete ſich, Napoleon durch diplomatiſche Verhandlungen zur Aner-
kennung des Beſitzſtandes von Luneville zu bewegen. Lehnte er ab, wie
vorauszuſehen, ſo trat die vermittelnde Macht der Coalition bei und
empfing als Siegespreis eine Gebietsvergrößerung; Rußland verhieß durch
ſeine guten Dienſte die Abtretung von Hannover in London durchzuſetzen,
während die engliſchen Staatsmänner lieber Holland an Preußen geben
wollten. Genug, der große europäiſche Kriegsbund ſchien geſchloſſen. Der
Czar verzichtete auf ſeine polniſchen Hintergedanken, ſagte reumüthig: „man
wird mich nicht wieder darüber ertappen.“ Eine zärtliche Umarmung
über dem Sarge des großen Friedrich — einer jener rührenden Auftritte,
wie ſie Alexanders Schauſpielernatur liebte — beſiegelte das Bündniß
zwiſchen den beiden wiederverſöhnten Freunden.

Die preußiſche Armee konnte, nach der Rechnung des Herzogs von
Braunſchweig, nicht vor dem 15. December in den Kampf eingreifen; denn
die an der Oſtgrenze verſammelten Truppen wurden nicht geradeswegs
nach Mähren geführt zur Vereinigung mit dem ruſſiſch-öſterreichiſchen
Heere, ſondern auf weitem Umwege nach Thüringen um von dort aus
den Franzoſen in den Rücken zu fallen. Dieſe weitläuftige Bewegung
entſprach den Wünſchen Oeſterreichs und der Vorliebe des Braunſchweigers
für künſtliche Evolutionen; ſicherlich hat dem bedachtſamen alten Herrn
auch der Gedanke vorgeſchwebt, vielleicht könne der Krieg doch noch ver-
mieden werden. Der König aber hielt den einmal gefaßten ſchweren Ent-
ſchluß mit zäher Treue feſt. Er hatte den Einmarſch in Hannover be-
fohlen, Heſſen und Sachſen für die Coalition gewonnen. Ein Heer von
200,000 Mann verſammelte ſich an den Südgrenzen der Monarchie um
die Unabhängigkeit des deutſchen Nordens zu vertheidigen; dazu die eng-
liſchen und ruſſiſchen Truppen, die in Hannover landeten, dazu die
Schweden König Guſtavs IV., des Todfeindes der Revolution. Gleich-
zeitig zog die ruſſiſche Reſervearmee durch Schleſien gegen Mähren, aus
Ungarn führte Erzherzog Karl das öſterreichiſche Südheer herbei.

Das Schickſal der Welt hing an der klugen Verzögerung des Kampfes.
Wurde Napoleon von den Alliirten in Mähren durch eine behutſame Defen-
ſive hingehalten, bis alle jene Zuzüge herankamen, bis mit dem verhängniß-
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[224/0240] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. Er ſah weder, daß die jüngſten Schritte des Königs jede ehrliche Ver- ſtändigung mit dem rachſüchtigen Corſen abſchnitten, noch daß dieſer Held nicht gewohnt war ſich durch Unterhandlungen in der Verfolgung ſeiner Siege aufhalten zu laſſen. Der Hoffnungsvolle glaubte noch immer an die Möglichkeit eines friedlichen Ausgangs und rieth daher, während nur das raſche Eintreten in den Krieg noch Heil verſprach, vielmehr zu einer bewaffneten Vermittlung, welche leicht durch neue Kriegserfolge der Fran- zoſen überholt werden konnte. Unterdeſſen kam der Czar ſelbſt nach Berlin, und am 3. November wurde der Potsdamer Vertrag unterzeichnet. Preußen verpflichtete ſich, Napoleon durch diplomatiſche Verhandlungen zur Aner- kennung des Beſitzſtandes von Luneville zu bewegen. Lehnte er ab, wie vorauszuſehen, ſo trat die vermittelnde Macht der Coalition bei und empfing als Siegespreis eine Gebietsvergrößerung; Rußland verhieß durch ſeine guten Dienſte die Abtretung von Hannover in London durchzuſetzen, während die engliſchen Staatsmänner lieber Holland an Preußen geben wollten. Genug, der große europäiſche Kriegsbund ſchien geſchloſſen. Der Czar verzichtete auf ſeine polniſchen Hintergedanken, ſagte reumüthig: „man wird mich nicht wieder darüber ertappen.“ Eine zärtliche Umarmung über dem Sarge des großen Friedrich — einer jener rührenden Auftritte, wie ſie Alexanders Schauſpielernatur liebte — beſiegelte das Bündniß zwiſchen den beiden wiederverſöhnten Freunden. Die preußiſche Armee konnte, nach der Rechnung des Herzogs von Braunſchweig, nicht vor dem 15. December in den Kampf eingreifen; denn die an der Oſtgrenze verſammelten Truppen wurden nicht geradeswegs nach Mähren geführt zur Vereinigung mit dem ruſſiſch-öſterreichiſchen Heere, ſondern auf weitem Umwege nach Thüringen um von dort aus den Franzoſen in den Rücken zu fallen. Dieſe weitläuftige Bewegung entſprach den Wünſchen Oeſterreichs und der Vorliebe des Braunſchweigers für künſtliche Evolutionen; ſicherlich hat dem bedachtſamen alten Herrn auch der Gedanke vorgeſchwebt, vielleicht könne der Krieg doch noch ver- mieden werden. Der König aber hielt den einmal gefaßten ſchweren Ent- ſchluß mit zäher Treue feſt. Er hatte den Einmarſch in Hannover be- fohlen, Heſſen und Sachſen für die Coalition gewonnen. Ein Heer von 200,000 Mann verſammelte ſich an den Südgrenzen der Monarchie um die Unabhängigkeit des deutſchen Nordens zu vertheidigen; dazu die eng- liſchen und ruſſiſchen Truppen, die in Hannover landeten, dazu die Schweden König Guſtavs IV., des Todfeindes der Revolution. Gleich- zeitig zog die ruſſiſche Reſervearmee durch Schleſien gegen Mähren, aus Ungarn führte Erzherzog Karl das öſterreichiſche Südheer herbei. Das Schickſal der Welt hing an der klugen Verzögerung des Kampfes. Wurde Napoleon von den Alliirten in Mähren durch eine behutſame Defen- ſive hingehalten, bis alle jene Zuzüge herankamen, bis mit dem verhängniß- vollen 15. December auch die preußiſche Armee in die Action eintrat, ſo ſchien

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/240>, abgerufen am 24.04.2024.