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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
bildung seiner großen Armee zur Vollendung. Im Volke wallte der
Nationalhaß des fünfzehnten Jahrhunderts wieder auf; eine Transport-
flotte, durch freiwillige Beiträge der Nation erheblich verstärkt, lag bereit
das Heer an die feindliche Küste zu führen. Wenn es nur gelang zwölf
Stunden lang den Canal zu beherrschen, dann mußte die Landung gewagt
werden, und -- "dann wird England nicht mehr sein", sagen Bonapartes
Briefe; die Unabhängigkeit Irlands und die Zerstörung des britischen
Reichthums sollten die Macht des Inselreichs für immer vernichten. In
solchen Träumen verloren konnte Bonaparte für jetzt einen Bruch mit
Preußen nicht wünschen.

König Friedrich Wilhelm wollte, getreu dem leitenden Gedanken seiner
auswärtigen Politik, das Wagniß nur unternehmen, wenn er sich im
Rücken durch Rußland gedeckt wußte. Er ließ, nachdem er in Paris und
London schüchtern zur Erhaltung des Friedens gemahnt hatte, bei dem
Czaren anfragen, ob Preußen auf Rußlands Hilfe rechnen könne. In
Petersburg aber gab die blinde Preußenfeindschaft des hannoverschen
Junkerthums den Ausschlag. Der englisch-hannoversche Gesandte am
russischen Hofe, Graf Münster theilte den unauslöschlichen Haß der eng-
lischen Hochtorys gegen den Erben der Revolution, aber auch den tiefen
Widerwillen des hannoverschen Adels gegen die Rechtsgleichheit und das
schlichte, bürgerlich soldatische Wesen des preußischen Staates: in Preu-
ßens Anerbieten sah er nur eine Falle, nur einen feindseligen Anschlag
gegen die Unabhängigkeit Hannovers. Auf Münsters Rath ertheilte Czar
Alexander seinem königlichen Freunde eine ablehnende Antwort. Und da
überdies England sich weigerte, zu Gunsten der preußischen Flagge seine
harten Schifffahrtsgesetze zu mildern, so wurde die hannoversche Regierung,
als sie endlich eigenmächtig in der elften Stunde um Preußens Hilfe bat,
abschlägig beschieden.

Mitten im Frieden des Reichs rückte das Armeecorps Mortiers un-
gestört in das Reichsland Hannover ein, das nach Völkerrecht mit dem
englisch-französischen Kriege nichts gemein hatte. Die Unfähigkeit der
alten Staatsgewalten bereitete den bonapartischen Heerschaaren abermals
ein leichtes Spiel. Das treue Volk haßte den Franzosen als den Erb-
feind, noch von den Siegen Ferdinands von Braunschweig her, und war
gern bereit den alten niedersächsischen Schlachtenmuth wieder an dem
Franzmann zu erproben, "wenn hei nich ruhig sin kann". Aber das
feige Adelsregiment in Hannover gab den Truppen den Befehl, "keine
Ombrage zu erregen", und überlieferte, ohne jeden Versuch ernsten Wider-
standes, durch den Vertrag von Suhlingen das ganze Land dem feind-
lichen Heerführer. Zum zweiten male binnen fünfzig Jahren ward die
tapfere hannoversche Armee durch eine ehrlose Politik zur Capitulation
gezwungen. Und diesmal folgte nicht, wie einst auf den Tag von Kloster
Zeven, ein rettendes Eingreifen der britischen Regierung: England ließ die

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
bildung ſeiner großen Armee zur Vollendung. Im Volke wallte der
Nationalhaß des fünfzehnten Jahrhunderts wieder auf; eine Transport-
flotte, durch freiwillige Beiträge der Nation erheblich verſtärkt, lag bereit
das Heer an die feindliche Küſte zu führen. Wenn es nur gelang zwölf
Stunden lang den Canal zu beherrſchen, dann mußte die Landung gewagt
werden, und — „dann wird England nicht mehr ſein“, ſagen Bonapartes
Briefe; die Unabhängigkeit Irlands und die Zerſtörung des britiſchen
Reichthums ſollten die Macht des Inſelreichs für immer vernichten. In
ſolchen Träumen verloren konnte Bonaparte für jetzt einen Bruch mit
Preußen nicht wünſchen.

König Friedrich Wilhelm wollte, getreu dem leitenden Gedanken ſeiner
auswärtigen Politik, das Wagniß nur unternehmen, wenn er ſich im
Rücken durch Rußland gedeckt wußte. Er ließ, nachdem er in Paris und
London ſchüchtern zur Erhaltung des Friedens gemahnt hatte, bei dem
Czaren anfragen, ob Preußen auf Rußlands Hilfe rechnen könne. In
Petersburg aber gab die blinde Preußenfeindſchaft des hannoverſchen
Junkerthums den Ausſchlag. Der engliſch-hannoverſche Geſandte am
ruſſiſchen Hofe, Graf Münſter theilte den unauslöſchlichen Haß der eng-
liſchen Hochtorys gegen den Erben der Revolution, aber auch den tiefen
Widerwillen des hannoverſchen Adels gegen die Rechtsgleichheit und das
ſchlichte, bürgerlich ſoldatiſche Weſen des preußiſchen Staates: in Preu-
ßens Anerbieten ſah er nur eine Falle, nur einen feindſeligen Anſchlag
gegen die Unabhängigkeit Hannovers. Auf Münſters Rath ertheilte Czar
Alexander ſeinem königlichen Freunde eine ablehnende Antwort. Und da
überdies England ſich weigerte, zu Gunſten der preußiſchen Flagge ſeine
harten Schifffahrtsgeſetze zu mildern, ſo wurde die hannoverſche Regierung,
als ſie endlich eigenmächtig in der elften Stunde um Preußens Hilfe bat,
abſchlägig beſchieden.

Mitten im Frieden des Reichs rückte das Armeecorps Mortiers un-
geſtört in das Reichsland Hannover ein, das nach Völkerrecht mit dem
engliſch-franzöſiſchen Kriege nichts gemein hatte. Die Unfähigkeit der
alten Staatsgewalten bereitete den bonapartiſchen Heerſchaaren abermals
ein leichtes Spiel. Das treue Volk haßte den Franzoſen als den Erb-
feind, noch von den Siegen Ferdinands von Braunſchweig her, und war
gern bereit den alten niederſächſiſchen Schlachtenmuth wieder an dem
Franzmann zu erproben, „wenn hei nich ruhig ſin kann“. Aber das
feige Adelsregiment in Hannover gab den Truppen den Befehl, „keine
Ombrage zu erregen“, und überlieferte, ohne jeden Verſuch ernſten Wider-
ſtandes, durch den Vertrag von Suhlingen das ganze Land dem feind-
lichen Heerführer. Zum zweiten male binnen fünfzig Jahren ward die
tapfere hannoverſche Armee durch eine ehrloſe Politik zur Capitulation
gezwungen. Und diesmal folgte nicht, wie einſt auf den Tag von Kloſter
Zeven, ein rettendes Eingreifen der britiſchen Regierung: England ließ die

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[214/0230] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. bildung ſeiner großen Armee zur Vollendung. Im Volke wallte der Nationalhaß des fünfzehnten Jahrhunderts wieder auf; eine Transport- flotte, durch freiwillige Beiträge der Nation erheblich verſtärkt, lag bereit das Heer an die feindliche Küſte zu führen. Wenn es nur gelang zwölf Stunden lang den Canal zu beherrſchen, dann mußte die Landung gewagt werden, und — „dann wird England nicht mehr ſein“, ſagen Bonapartes Briefe; die Unabhängigkeit Irlands und die Zerſtörung des britiſchen Reichthums ſollten die Macht des Inſelreichs für immer vernichten. In ſolchen Träumen verloren konnte Bonaparte für jetzt einen Bruch mit Preußen nicht wünſchen. König Friedrich Wilhelm wollte, getreu dem leitenden Gedanken ſeiner auswärtigen Politik, das Wagniß nur unternehmen, wenn er ſich im Rücken durch Rußland gedeckt wußte. Er ließ, nachdem er in Paris und London ſchüchtern zur Erhaltung des Friedens gemahnt hatte, bei dem Czaren anfragen, ob Preußen auf Rußlands Hilfe rechnen könne. In Petersburg aber gab die blinde Preußenfeindſchaft des hannoverſchen Junkerthums den Ausſchlag. Der engliſch-hannoverſche Geſandte am ruſſiſchen Hofe, Graf Münſter theilte den unauslöſchlichen Haß der eng- liſchen Hochtorys gegen den Erben der Revolution, aber auch den tiefen Widerwillen des hannoverſchen Adels gegen die Rechtsgleichheit und das ſchlichte, bürgerlich ſoldatiſche Weſen des preußiſchen Staates: in Preu- ßens Anerbieten ſah er nur eine Falle, nur einen feindſeligen Anſchlag gegen die Unabhängigkeit Hannovers. Auf Münſters Rath ertheilte Czar Alexander ſeinem königlichen Freunde eine ablehnende Antwort. Und da überdies England ſich weigerte, zu Gunſten der preußiſchen Flagge ſeine harten Schifffahrtsgeſetze zu mildern, ſo wurde die hannoverſche Regierung, als ſie endlich eigenmächtig in der elften Stunde um Preußens Hilfe bat, abſchlägig beſchieden. Mitten im Frieden des Reichs rückte das Armeecorps Mortiers un- geſtört in das Reichsland Hannover ein, das nach Völkerrecht mit dem engliſch-franzöſiſchen Kriege nichts gemein hatte. Die Unfähigkeit der alten Staatsgewalten bereitete den bonapartiſchen Heerſchaaren abermals ein leichtes Spiel. Das treue Volk haßte den Franzoſen als den Erb- feind, noch von den Siegen Ferdinands von Braunſchweig her, und war gern bereit den alten niederſächſiſchen Schlachtenmuth wieder an dem Franzmann zu erproben, „wenn hei nich ruhig ſin kann“. Aber das feige Adelsregiment in Hannover gab den Truppen den Befehl, „keine Ombrage zu erregen“, und überlieferte, ohne jeden Verſuch ernſten Wider- ſtandes, durch den Vertrag von Suhlingen das ganze Land dem feind- lichen Heerführer. Zum zweiten male binnen fünfzig Jahren ward die tapfere hannoverſche Armee durch eine ehrloſe Politik zur Capitulation gezwungen. Und diesmal folgte nicht, wie einſt auf den Tag von Kloſter Zeven, ein rettendes Eingreifen der britiſchen Regierung: England ließ die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/230>, abgerufen am 19.04.2024.