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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Reichsverfassung.
des Gedankens zu beherrschen. Seine Seele tönte von jedem Athemzuge
der Menschheit. Seine classische Literatur ward vielseitiger, kühner,
menschlich freier, als die früher gereifte Bildung der Nachbarvölker.
Hundertundfünfzig Jahre nach dem Untergange der alten deutschen
Cultur durfte Hölderlin das neue Deutschland also anreden:

O heilig Herz der Völker, o Vaterland!
Allduldend gleich der schweigenden Mutter Erd'
Und allverkannt, wenn schon aus deiner
Tiefe die Fremden ihr Bestes haben.

Zugleich erwachte wieder die staatenbildende Kraft der Nation. Aus
dem Durcheinander verrotteter Reichsformen und unfertiger Territorien
hob sich der junge preußische Staat empor. Von ihm ging fortan das
politische Leben Deutschlands aus. Wie einst fast um ein Jahrtausend
zuvor die Krone von Wessex alle Königreiche der Angelsachsen zum Staate
von England vereinigte, wie das Königthum der Franzosen von der Isle
de France aus, das ganze Mittelalter hindurch, die Theilstaaten der
Barone und Communen eroberte und bändigte, so hat die Monarchie der
brandenburgisch-preußischen Marken der zerrissenen deutschen Nation
wieder ein Vaterland geschaffen. Das harte Ringen um die Anfänge
der Staatseinheit gelingt gemeinhin nur der derben bildsamen Lebens-
kraft jugendlicher Völker; hier aber vollzog es sich im hellen Mittagslichte
der neuen Zeit, gegen den Widerstand des gesammten Welttheils, im
Kampfe mit den legitimen Gewalten des heiligen Reichs und den unzähligen
durch eine alte Geschichte verhärteten Gegensätzen des vielgestaltigen
deutschen Lebens. Es war die schwerste Einheitsbewegung, die Europa
erlebte, und nur der letzte, volle, durchschlagende Erfolg hat endlich die
widerwillige Welt gezwungen, an das so oft aussichtslos gescholtene Werk
zu glauben. --

Von Kaiser und Reich konnte die Neugestaltung des deutschen
Staates nicht mehr ausgehen. Die alte längst schon brüchige Reichs-
verfassung wurde seit dem Eindringen des Protestantismus zu einer
häßlichen Lüge. Die letzten Folgen alles großen menschlichen Thuns
bleiben dem Thäter selber verhüllt. Wie Martin Luther, da er von der
Kirche des Mittelalters sich löste, ahnungslos die Bahn brach für die
weltliche Wissenschaft unserer Tage, die seinen frommen Sinn empören
würde: so hat er auch, indem er den Staat von der Vormundschaft der
Kirche befreite, die Wurzeln jenes römischen Kaiserthums untergraben,
das er als treuer Unterthan verehrte. Sobald die Mehrheit der Nation
der evangelischen Lehre sich zuwandte, ward die theokratische Kaiserwürde
ebenso unhaltbar wie ihre Stütze, das geistliche Fürstenthum. Der ge-
krönte Schirmvogt und die Bischöfe der alten Kirche durften nicht
herrschen über ketzerischem Volke. Darum wurde schon in den ersten
Jahren der Reformation, auf dem Reichstage von 1525, die Forderung

Die Reichsverfaſſung.
des Gedankens zu beherrſchen. Seine Seele tönte von jedem Athemzuge
der Menſchheit. Seine claſſiſche Literatur ward vielſeitiger, kühner,
menſchlich freier, als die früher gereifte Bildung der Nachbarvölker.
Hundertundfünfzig Jahre nach dem Untergange der alten deutſchen
Cultur durfte Hölderlin das neue Deutſchland alſo anreden:

O heilig Herz der Völker, o Vaterland!
Allduldend gleich der ſchweigenden Mutter Erd’
Und allverkannt, wenn ſchon aus deiner
Tiefe die Fremden ihr Beſtes haben.

Zugleich erwachte wieder die ſtaatenbildende Kraft der Nation. Aus
dem Durcheinander verrotteter Reichsformen und unfertiger Territorien
hob ſich der junge preußiſche Staat empor. Von ihm ging fortan das
politiſche Leben Deutſchlands aus. Wie einſt faſt um ein Jahrtauſend
zuvor die Krone von Weſſex alle Königreiche der Angelſachſen zum Staate
von England vereinigte, wie das Königthum der Franzoſen von der Isle
de France aus, das ganze Mittelalter hindurch, die Theilſtaaten der
Barone und Communen eroberte und bändigte, ſo hat die Monarchie der
brandenburgiſch-preußiſchen Marken der zerriſſenen deutſchen Nation
wieder ein Vaterland geſchaffen. Das harte Ringen um die Anfänge
der Staatseinheit gelingt gemeinhin nur der derben bildſamen Lebens-
kraft jugendlicher Völker; hier aber vollzog es ſich im hellen Mittagslichte
der neuen Zeit, gegen den Widerſtand des geſammten Welttheils, im
Kampfe mit den legitimen Gewalten des heiligen Reichs und den unzähligen
durch eine alte Geſchichte verhärteten Gegenſätzen des vielgeſtaltigen
deutſchen Lebens. Es war die ſchwerſte Einheitsbewegung, die Europa
erlebte, und nur der letzte, volle, durchſchlagende Erfolg hat endlich die
widerwillige Welt gezwungen, an das ſo oft ausſichtslos geſcholtene Werk
zu glauben. —

Von Kaiſer und Reich konnte die Neugeſtaltung des deutſchen
Staates nicht mehr ausgehen. Die alte längſt ſchon brüchige Reichs-
verfaſſung wurde ſeit dem Eindringen des Proteſtantismus zu einer
häßlichen Lüge. Die letzten Folgen alles großen menſchlichen Thuns
bleiben dem Thäter ſelber verhüllt. Wie Martin Luther, da er von der
Kirche des Mittelalters ſich löſte, ahnungslos die Bahn brach für die
weltliche Wiſſenſchaft unſerer Tage, die ſeinen frommen Sinn empören
würde: ſo hat er auch, indem er den Staat von der Vormundſchaft der
Kirche befreite, die Wurzeln jenes römiſchen Kaiſerthums untergraben,
das er als treuer Unterthan verehrte. Sobald die Mehrheit der Nation
der evangeliſchen Lehre ſich zuwandte, ward die theokratiſche Kaiſerwürde
ebenſo unhaltbar wie ihre Stütze, das geiſtliche Fürſtenthum. Der ge-
krönte Schirmvogt und die Biſchöfe der alten Kirche durften nicht
herrſchen über ketzeriſchem Volke. Darum wurde ſchon in den erſten
Jahren der Reformation, auf dem Reichstage von 1525, die Forderung

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[7/0023] Die Reichsverfaſſung. des Gedankens zu beherrſchen. Seine Seele tönte von jedem Athemzuge der Menſchheit. Seine claſſiſche Literatur ward vielſeitiger, kühner, menſchlich freier, als die früher gereifte Bildung der Nachbarvölker. Hundertundfünfzig Jahre nach dem Untergange der alten deutſchen Cultur durfte Hölderlin das neue Deutſchland alſo anreden: O heilig Herz der Völker, o Vaterland! Allduldend gleich der ſchweigenden Mutter Erd’ Und allverkannt, wenn ſchon aus deiner Tiefe die Fremden ihr Beſtes haben. Zugleich erwachte wieder die ſtaatenbildende Kraft der Nation. Aus dem Durcheinander verrotteter Reichsformen und unfertiger Territorien hob ſich der junge preußiſche Staat empor. Von ihm ging fortan das politiſche Leben Deutſchlands aus. Wie einſt faſt um ein Jahrtauſend zuvor die Krone von Weſſex alle Königreiche der Angelſachſen zum Staate von England vereinigte, wie das Königthum der Franzoſen von der Isle de France aus, das ganze Mittelalter hindurch, die Theilſtaaten der Barone und Communen eroberte und bändigte, ſo hat die Monarchie der brandenburgiſch-preußiſchen Marken der zerriſſenen deutſchen Nation wieder ein Vaterland geſchaffen. Das harte Ringen um die Anfänge der Staatseinheit gelingt gemeinhin nur der derben bildſamen Lebens- kraft jugendlicher Völker; hier aber vollzog es ſich im hellen Mittagslichte der neuen Zeit, gegen den Widerſtand des geſammten Welttheils, im Kampfe mit den legitimen Gewalten des heiligen Reichs und den unzähligen durch eine alte Geſchichte verhärteten Gegenſätzen des vielgeſtaltigen deutſchen Lebens. Es war die ſchwerſte Einheitsbewegung, die Europa erlebte, und nur der letzte, volle, durchſchlagende Erfolg hat endlich die widerwillige Welt gezwungen, an das ſo oft ausſichtslos geſcholtene Werk zu glauben. — Von Kaiſer und Reich konnte die Neugeſtaltung des deutſchen Staates nicht mehr ausgehen. Die alte längſt ſchon brüchige Reichs- verfaſſung wurde ſeit dem Eindringen des Proteſtantismus zu einer häßlichen Lüge. Die letzten Folgen alles großen menſchlichen Thuns bleiben dem Thäter ſelber verhüllt. Wie Martin Luther, da er von der Kirche des Mittelalters ſich löſte, ahnungslos die Bahn brach für die weltliche Wiſſenſchaft unſerer Tage, die ſeinen frommen Sinn empören würde: ſo hat er auch, indem er den Staat von der Vormundſchaft der Kirche befreite, die Wurzeln jenes römiſchen Kaiſerthums untergraben, das er als treuer Unterthan verehrte. Sobald die Mehrheit der Nation der evangeliſchen Lehre ſich zuwandte, ward die theokratiſche Kaiſerwürde ebenſo unhaltbar wie ihre Stütze, das geiſtliche Fürſtenthum. Der ge- krönte Schirmvogt und die Biſchöfe der alten Kirche durften nicht herrſchen über ketzeriſchem Volke. Darum wurde ſchon in den erſten Jahren der Reformation, auf dem Reichstage von 1525, die Forderung

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/23>, abgerufen am 18.04.2024.