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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Goethe nach der italienischen Reise.
weit diese Literatur volksthümlich sein konnte; durch die mächtige Rhetorik
seiner Jungfrau von Orleans wurden sogar die Höfe von Berlin und
Dresden aus ihrer gründlichen Prosa aufgeschüttelt. Goethe hatte schon
als Jüngling an dem Bilde des Straßburger Münsters sich begeistert
und damals schon, zuerst unter den Zeitgenossen, einen Einblick gewonnen
in das Leben unseres Mittelalters; er liebte, das Alterthümliche in den
Reichthum seiner Sprache aufzunehmen und neu zu beleben. Schiller
dagegen war ein durchaus moderner Mensch, modern in Empfindung und
Rede, ohne Sinn für das deutsche Alterthum und ebendeßhalb populärer;
denn die Nation, die ihrer Vorzeit vergessen hatte, verlangte nach dem
Neuen und Blanken.

In Italien verbrachte Goethe seine zweite Jugendzeit, er lebte sich
ein in die classische Formenwelt und ward im Alterthume heimisch wie
Niemand seit Winkelmann. Nach den neuen Anschauungen, die ihm dort
zuströmten, formte er nun die in den letzten zehn Jahren still empfangenen
Werke und überraschte die Nation durch eine Reihe von Dichtungen, welche
mit der Anschaulichkeit und der Lebenswärme seiner Jugendschriften eine
den Deutschen noch ganz unbekannte stilvolle Hoheit und getragene Würde
verbanden. Doch er mußte erfahren, daß die Masse der Leser seinem
neuen Stile noch nicht folgen konnte und weder die zarte sinnvolle Schön-
heit der Iphigenia noch die verhaltene tiefe Leidenschaft des Tasso recht
verstehen wollte. Die Deutschen verloren den Dichter ganz aus den
Augen, da er jetzt "in seiner Dachshöhle" sich vergrub und durch jahre-
lange Forschung und Betrachtung ein Vertrauter der Natur wurde. Er
wagte sich an das titanische Unternehmen, schrittweis aufsteigend von der
einfachsten zu der höchsten Organisation die ganze Natur zu verstehen
und verstehend mit ihr zu leben. Und dies wissenschaftliche Erkennen,
"nie geschlossen, oft geründet", war zugleich künstlerische Anschauung; er
gab sich der Natur hin mit allen Kräften seiner Seele, so innig, so liebe-
voll, daß er seine geologischen Studien mit Recht "meine Erdfreundschaft"
nennen durfte. Die Forschung beirrte ihn nicht, sie bestärkte ihn in der
naiven Weltanschauung des Dichters, der immer den Schwerpunkt der
Welt im Herzen des Menschen sucht. Das All belebte sich vor seinen
ahnenden Blicken, und indem er erkannte, wie das Ewige sich in allen
Wesen fort regt, hielt er nur um so freudiger den Glauben fest an das
selbständige Gewissen, die Sonne unseres Sittentages. Seit er den Gott
ahnte, der die Welt im Innersten bewegt, erschien die heitere Weltfreudig-
keit seines Dichtergeistes verklärt durch die Weihe einer frommen, heiligen
Andacht: "strömt Lebenslust aus allen Dingen, dem kleinsten wie dem
größten Stern, und alles Drängen, alles Ringen ist ew'ge Ruh' in Gott
dem Herrn!"

Unterdessen hatte Schiller, wie er selbst gesteht, im Poetischen einen
völlig neuen Menschen angezogen und durch ernste philosophische Forschung

Goethe nach der italieniſchen Reiſe.
weit dieſe Literatur volksthümlich ſein konnte; durch die mächtige Rhetorik
ſeiner Jungfrau von Orleans wurden ſogar die Höfe von Berlin und
Dresden aus ihrer gründlichen Proſa aufgeſchüttelt. Goethe hatte ſchon
als Jüngling an dem Bilde des Straßburger Münſters ſich begeiſtert
und damals ſchon, zuerſt unter den Zeitgenoſſen, einen Einblick gewonnen
in das Leben unſeres Mittelalters; er liebte, das Alterthümliche in den
Reichthum ſeiner Sprache aufzunehmen und neu zu beleben. Schiller
dagegen war ein durchaus moderner Menſch, modern in Empfindung und
Rede, ohne Sinn für das deutſche Alterthum und ebendeßhalb populärer;
denn die Nation, die ihrer Vorzeit vergeſſen hatte, verlangte nach dem
Neuen und Blanken.

In Italien verbrachte Goethe ſeine zweite Jugendzeit, er lebte ſich
ein in die claſſiſche Formenwelt und ward im Alterthume heimiſch wie
Niemand ſeit Winkelmann. Nach den neuen Anſchauungen, die ihm dort
zuſtrömten, formte er nun die in den letzten zehn Jahren ſtill empfangenen
Werke und überraſchte die Nation durch eine Reihe von Dichtungen, welche
mit der Anſchaulichkeit und der Lebenswärme ſeiner Jugendſchriften eine
den Deutſchen noch ganz unbekannte ſtilvolle Hoheit und getragene Würde
verbanden. Doch er mußte erfahren, daß die Maſſe der Leſer ſeinem
neuen Stile noch nicht folgen konnte und weder die zarte ſinnvolle Schön-
heit der Iphigenia noch die verhaltene tiefe Leidenſchaft des Taſſo recht
verſtehen wollte. Die Deutſchen verloren den Dichter ganz aus den
Augen, da er jetzt „in ſeiner Dachshöhle“ ſich vergrub und durch jahre-
lange Forſchung und Betrachtung ein Vertrauter der Natur wurde. Er
wagte ſich an das titaniſche Unternehmen, ſchrittweis aufſteigend von der
einfachſten zu der höchſten Organiſation die ganze Natur zu verſtehen
und verſtehend mit ihr zu leben. Und dies wiſſenſchaftliche Erkennen,
„nie geſchloſſen, oft geründet“, war zugleich künſtleriſche Anſchauung; er
gab ſich der Natur hin mit allen Kräften ſeiner Seele, ſo innig, ſo liebe-
voll, daß er ſeine geologiſchen Studien mit Recht „meine Erdfreundſchaft“
nennen durfte. Die Forſchung beirrte ihn nicht, ſie beſtärkte ihn in der
naiven Weltanſchauung des Dichters, der immer den Schwerpunkt der
Welt im Herzen des Menſchen ſucht. Das All belebte ſich vor ſeinen
ahnenden Blicken, und indem er erkannte, wie das Ewige ſich in allen
Weſen fort regt, hielt er nur um ſo freudiger den Glauben feſt an das
ſelbſtändige Gewiſſen, die Sonne unſeres Sittentages. Seit er den Gott
ahnte, der die Welt im Innerſten bewegt, erſchien die heitere Weltfreudig-
keit ſeines Dichtergeiſtes verklärt durch die Weihe einer frommen, heiligen
Andacht: „ſtrömt Lebensluſt aus allen Dingen, dem kleinſten wie dem
größten Stern, und alles Drängen, alles Ringen iſt ew’ge Ruh’ in Gott
dem Herrn!“

Unterdeſſen hatte Schiller, wie er ſelbſt geſteht, im Poetiſchen einen
völlig neuen Menſchen angezogen und durch ernſte philoſophiſche Forſchung

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[199/0215] Goethe nach der italieniſchen Reiſe. weit dieſe Literatur volksthümlich ſein konnte; durch die mächtige Rhetorik ſeiner Jungfrau von Orleans wurden ſogar die Höfe von Berlin und Dresden aus ihrer gründlichen Proſa aufgeſchüttelt. Goethe hatte ſchon als Jüngling an dem Bilde des Straßburger Münſters ſich begeiſtert und damals ſchon, zuerſt unter den Zeitgenoſſen, einen Einblick gewonnen in das Leben unſeres Mittelalters; er liebte, das Alterthümliche in den Reichthum ſeiner Sprache aufzunehmen und neu zu beleben. Schiller dagegen war ein durchaus moderner Menſch, modern in Empfindung und Rede, ohne Sinn für das deutſche Alterthum und ebendeßhalb populärer; denn die Nation, die ihrer Vorzeit vergeſſen hatte, verlangte nach dem Neuen und Blanken. In Italien verbrachte Goethe ſeine zweite Jugendzeit, er lebte ſich ein in die claſſiſche Formenwelt und ward im Alterthume heimiſch wie Niemand ſeit Winkelmann. Nach den neuen Anſchauungen, die ihm dort zuſtrömten, formte er nun die in den letzten zehn Jahren ſtill empfangenen Werke und überraſchte die Nation durch eine Reihe von Dichtungen, welche mit der Anſchaulichkeit und der Lebenswärme ſeiner Jugendſchriften eine den Deutſchen noch ganz unbekannte ſtilvolle Hoheit und getragene Würde verbanden. Doch er mußte erfahren, daß die Maſſe der Leſer ſeinem neuen Stile noch nicht folgen konnte und weder die zarte ſinnvolle Schön- heit der Iphigenia noch die verhaltene tiefe Leidenſchaft des Taſſo recht verſtehen wollte. Die Deutſchen verloren den Dichter ganz aus den Augen, da er jetzt „in ſeiner Dachshöhle“ ſich vergrub und durch jahre- lange Forſchung und Betrachtung ein Vertrauter der Natur wurde. Er wagte ſich an das titaniſche Unternehmen, ſchrittweis aufſteigend von der einfachſten zu der höchſten Organiſation die ganze Natur zu verſtehen und verſtehend mit ihr zu leben. Und dies wiſſenſchaftliche Erkennen, „nie geſchloſſen, oft geründet“, war zugleich künſtleriſche Anſchauung; er gab ſich der Natur hin mit allen Kräften ſeiner Seele, ſo innig, ſo liebe- voll, daß er ſeine geologiſchen Studien mit Recht „meine Erdfreundſchaft“ nennen durfte. Die Forſchung beirrte ihn nicht, ſie beſtärkte ihn in der naiven Weltanſchauung des Dichters, der immer den Schwerpunkt der Welt im Herzen des Menſchen ſucht. Das All belebte ſich vor ſeinen ahnenden Blicken, und indem er erkannte, wie das Ewige ſich in allen Weſen fort regt, hielt er nur um ſo freudiger den Glauben feſt an das ſelbſtändige Gewiſſen, die Sonne unſeres Sittentages. Seit er den Gott ahnte, der die Welt im Innerſten bewegt, erſchien die heitere Weltfreudig- keit ſeines Dichtergeiſtes verklärt durch die Weihe einer frommen, heiligen Andacht: „ſtrömt Lebensluſt aus allen Dingen, dem kleinſten wie dem größten Stern, und alles Drängen, alles Ringen iſt ew’ge Ruh’ in Gott dem Herrn!“ Unterdeſſen hatte Schiller, wie er ſelbſt geſteht, im Poetiſchen einen völlig neuen Menſchen angezogen und durch ernſte philoſophiſche Forſchung

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/215>, abgerufen am 16.04.2024.