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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Das neue Süddeutschland.
Westen durch einige neue Inseln bereichert, wie die Berliner spotteten.
Der König fühlte es wohl, ohne Hannover ließen sich in so schwüler Zeit
die westphälischen Provinzen nicht behaupten. Die Besetzung der welfischen
Stammlande konnte bald zu einer unumgänglichen Nothwendigkeit werden,
und doch geschah nichts, den Staat zu rüsten für diese ernste Zukunft.
Das schlaffe System der landesväterlichen Milde und Sparsamkeit lebte
so dahin, als sei die Zeit des ewigen Friedens gekommen.

Währenddem holte der deutsche Süden mit einem gewaltsamen Schlage
nach was Preußen durch die Arbeit zweier Jahrhunderte langsam erreicht
hatte. In Norddeutschland war die Mehrzahl der geistlichen Gebiete schon
während des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts mit den weltlichen
Nachbarstaaten vereinigt worden; der Reichsdeputationshauptschluß brachte
diesen Staaten nur eine mäßige Vergrößerung ohne ihren historischen
Charakter zu verändern. Im Südwesten dagegen brach der gesammte
überkommene Länderbestand jählings zusammen; selbst das ruhmvollste der
alten oberdeutschen Territorien, Kurpfalz, wurde zwischen den Nachbarn
aufgetheilt. Hier führte die Fürstenrevolution nicht blos eine Gebiets-
veränderung, sondern eine neue Staatengründung herbei. Den willkürlich
zusammengeworfenen Ländertrümmern, welche man jetzt Baden, Nassau,
Hessen-Darmstadt nannte, fehlte jede Gemeinschaft geschichtlicher Erinne-
rungen; auch in Baiern und Württemberg war das alte Stammland der
Dynastie bei Weitem nicht stark genug um die neuerworbenen Landschaften
mit seinem Geiste zu erfüllen. So ward unser vielgestaltiges Staatsleben
um einen neuen Gegensatz reicher, der sich bis zum heutigen Tage nicht
völlig verwischt hat. Das neue Deutschland zerfiel in drei scharf ge-
schiedene Gruppen. Auf der einen Seite standen die kleinen norddeutschen
Staaten mit ihrem alten Ständewesen und ihren angestammten Fürsten-
häusern, auf der anderen die geschichtslosen, modern-bureaukratischen
Staatsbildungen Oberdeutschlands, die Geschöpfe des Bonapartismus,
mitteninne endlich Preußen, das in stetiger Entwicklung den altständischen
Staat überwunden hatte ohne seine Formen gänzlich zu zerstören. Ueber
den Süden brach nun urplötzlich und mit der Roheit einer revolutionären
Macht der moderne Staat herein. Eine übermüthige, dreiste, vielgeschäftige
Bureaukratie, die sich Bonapartes Präfecten zum Muster nahm, riß die
Doppeladler von den Rathhäusern der Reichsstädte, die alten Wappen-
schilder von den Thoren der Bischofsschlösser, warf die Verfassungen der
Städte und der Länder über den Haufen, schuf aus dem Chaos bunt-
scheckiger Territorien gleichförmige, streng centralisirte Verwaltungsbezirke;
sie bildete in diesen waffenlosen Landschaften eine unverächtliche junge
Militärmacht, die für Preußen leicht lästig werden konnte, sie strebte mit
jedem Mittel ein neues bairisches, württembergisches, nassauisches National-
gefühl großzuziehen.

Dennoch ist der große Umsturz in seinen letzten Nachwirkungen nicht

Das neue Süddeutſchland.
Weſten durch einige neue Inſeln bereichert, wie die Berliner ſpotteten.
Der König fühlte es wohl, ohne Hannover ließen ſich in ſo ſchwüler Zeit
die weſtphäliſchen Provinzen nicht behaupten. Die Beſetzung der welfiſchen
Stammlande konnte bald zu einer unumgänglichen Nothwendigkeit werden,
und doch geſchah nichts, den Staat zu rüſten für dieſe ernſte Zukunft.
Das ſchlaffe Syſtem der landesväterlichen Milde und Sparſamkeit lebte
ſo dahin, als ſei die Zeit des ewigen Friedens gekommen.

Währenddem holte der deutſche Süden mit einem gewaltſamen Schlage
nach was Preußen durch die Arbeit zweier Jahrhunderte langſam erreicht
hatte. In Norddeutſchland war die Mehrzahl der geiſtlichen Gebiete ſchon
während des ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhunderts mit den weltlichen
Nachbarſtaaten vereinigt worden; der Reichsdeputationshauptſchluß brachte
dieſen Staaten nur eine mäßige Vergrößerung ohne ihren hiſtoriſchen
Charakter zu verändern. Im Südweſten dagegen brach der geſammte
überkommene Länderbeſtand jählings zuſammen; ſelbſt das ruhmvollſte der
alten oberdeutſchen Territorien, Kurpfalz, wurde zwiſchen den Nachbarn
aufgetheilt. Hier führte die Fürſtenrevolution nicht blos eine Gebiets-
veränderung, ſondern eine neue Staatengründung herbei. Den willkürlich
zuſammengeworfenen Ländertrümmern, welche man jetzt Baden, Naſſau,
Heſſen-Darmſtadt nannte, fehlte jede Gemeinſchaft geſchichtlicher Erinne-
rungen; auch in Baiern und Württemberg war das alte Stammland der
Dynaſtie bei Weitem nicht ſtark genug um die neuerworbenen Landſchaften
mit ſeinem Geiſte zu erfüllen. So ward unſer vielgeſtaltiges Staatsleben
um einen neuen Gegenſatz reicher, der ſich bis zum heutigen Tage nicht
völlig verwiſcht hat. Das neue Deutſchland zerfiel in drei ſcharf ge-
ſchiedene Gruppen. Auf der einen Seite ſtanden die kleinen norddeutſchen
Staaten mit ihrem alten Ständeweſen und ihren angeſtammten Fürſten-
häuſern, auf der anderen die geſchichtsloſen, modern-bureaukratiſchen
Staatsbildungen Oberdeutſchlands, die Geſchöpfe des Bonapartismus,
mitteninne endlich Preußen, das in ſtetiger Entwicklung den altſtändiſchen
Staat überwunden hatte ohne ſeine Formen gänzlich zu zerſtören. Ueber
den Süden brach nun urplötzlich und mit der Roheit einer revolutionären
Macht der moderne Staat herein. Eine übermüthige, dreiſte, vielgeſchäftige
Bureaukratie, die ſich Bonapartes Präfecten zum Muſter nahm, riß die
Doppeladler von den Rathhäuſern der Reichsſtädte, die alten Wappen-
ſchilder von den Thoren der Biſchofsſchlöſſer, warf die Verfaſſungen der
Städte und der Länder über den Haufen, ſchuf aus dem Chaos bunt-
ſcheckiger Territorien gleichförmige, ſtreng centraliſirte Verwaltungsbezirke;
ſie bildete in dieſen waffenloſen Landſchaften eine unverächtliche junge
Militärmacht, die für Preußen leicht läſtig werden konnte, ſie ſtrebte mit
jedem Mittel ein neues bairiſches, württembergiſches, naſſauiſches National-
gefühl großzuziehen.

Dennoch iſt der große Umſturz in ſeinen letzten Nachwirkungen nicht

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[191/0207] Das neue Süddeutſchland. Weſten durch einige neue Inſeln bereichert, wie die Berliner ſpotteten. Der König fühlte es wohl, ohne Hannover ließen ſich in ſo ſchwüler Zeit die weſtphäliſchen Provinzen nicht behaupten. Die Beſetzung der welfiſchen Stammlande konnte bald zu einer unumgänglichen Nothwendigkeit werden, und doch geſchah nichts, den Staat zu rüſten für dieſe ernſte Zukunft. Das ſchlaffe Syſtem der landesväterlichen Milde und Sparſamkeit lebte ſo dahin, als ſei die Zeit des ewigen Friedens gekommen. Währenddem holte der deutſche Süden mit einem gewaltſamen Schlage nach was Preußen durch die Arbeit zweier Jahrhunderte langſam erreicht hatte. In Norddeutſchland war die Mehrzahl der geiſtlichen Gebiete ſchon während des ſechzehnten und ſiebzehnten Jahrhunderts mit den weltlichen Nachbarſtaaten vereinigt worden; der Reichsdeputationshauptſchluß brachte dieſen Staaten nur eine mäßige Vergrößerung ohne ihren hiſtoriſchen Charakter zu verändern. Im Südweſten dagegen brach der geſammte überkommene Länderbeſtand jählings zuſammen; ſelbſt das ruhmvollſte der alten oberdeutſchen Territorien, Kurpfalz, wurde zwiſchen den Nachbarn aufgetheilt. Hier führte die Fürſtenrevolution nicht blos eine Gebiets- veränderung, ſondern eine neue Staatengründung herbei. Den willkürlich zuſammengeworfenen Ländertrümmern, welche man jetzt Baden, Naſſau, Heſſen-Darmſtadt nannte, fehlte jede Gemeinſchaft geſchichtlicher Erinne- rungen; auch in Baiern und Württemberg war das alte Stammland der Dynaſtie bei Weitem nicht ſtark genug um die neuerworbenen Landſchaften mit ſeinem Geiſte zu erfüllen. So ward unſer vielgeſtaltiges Staatsleben um einen neuen Gegenſatz reicher, der ſich bis zum heutigen Tage nicht völlig verwiſcht hat. Das neue Deutſchland zerfiel in drei ſcharf ge- ſchiedene Gruppen. Auf der einen Seite ſtanden die kleinen norddeutſchen Staaten mit ihrem alten Ständeweſen und ihren angeſtammten Fürſten- häuſern, auf der anderen die geſchichtsloſen, modern-bureaukratiſchen Staatsbildungen Oberdeutſchlands, die Geſchöpfe des Bonapartismus, mitteninne endlich Preußen, das in ſtetiger Entwicklung den altſtändiſchen Staat überwunden hatte ohne ſeine Formen gänzlich zu zerſtören. Ueber den Süden brach nun urplötzlich und mit der Roheit einer revolutionären Macht der moderne Staat herein. Eine übermüthige, dreiſte, vielgeſchäftige Bureaukratie, die ſich Bonapartes Präfecten zum Muſter nahm, riß die Doppeladler von den Rathhäuſern der Reichsſtädte, die alten Wappen- ſchilder von den Thoren der Biſchofsſchlöſſer, warf die Verfaſſungen der Städte und der Länder über den Haufen, ſchuf aus dem Chaos bunt- ſcheckiger Territorien gleichförmige, ſtreng centraliſirte Verwaltungsbezirke; ſie bildete in dieſen waffenloſen Landſchaften eine unverächtliche junge Militärmacht, die für Preußen leicht läſtig werden konnte, ſie ſtrebte mit jedem Mittel ein neues bairiſches, württembergiſches, naſſauiſches National- gefühl großzuziehen. Dennoch iſt der große Umſturz in ſeinen letzten Nachwirkungen nicht

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/207>, abgerufen am 18.04.2024.