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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
Ernst des deutschen Gewissens führte die verweltlichte Kirche zurück zu
der erhabenen Einfalt des evangelischen Christenthums; deutschem Geiste
entsprang der Gedanke der Befreiung des Staates von der Herrschaft
der Kirche. Unser Volk erstieg zum zweiten male einen Höhepunkt seiner
Gesittung, begann schlicht und recht die verwegenste Revolution aller
Zeiten. In anderen germanischen Ländern hat der Protestantismus
überall die nationale Staatsgewalt gestärkt, die Vielherrschaft des Mittel-
alters aufgehoben. In seinem Geburtslande vollendete er nur die Auf-
lösung des alten Gemeinwesens. Es ward entscheidend für alle Zukunft
der deutschen Monarchie, daß ein Fremdling unsere Krone trug während
jener hoffnungsfrohen Tage, da die Nation frohlockend den Wittenberger
Mönch begrüßte und, bis in ihre Tiefen aufgeregt, eine Neugestaltung
des Reiches an Haupt und Gliedern erwartete. Die kaiserliche Macht,
dermaleinst der Führer der Deutschen im Kampfe wider das Papstthum,
versagte sich der kirchlichen, wie der politischen Reform. Das Kaiserthum
der Habsburger ward römisch, führte die Völker des romanischen Süd-
europas ins Feld wider die deutschen Ketzer und ist fortan bis zu seinem
ruhmlosen Untergange der Feind alles deutschen Wesens geblieben.

Die evangelische Lehre sucht ihre Zuflucht bei den weltlichen Landes-
herren. Als Beschützer des deutschen Glaubens behaupten und bewähren
die Territorialgewalten das Recht ihres Daseins. Doch die Nation
vermag weder ihrem eigensten Werke, der Reformation, die Alleinherrschaft
zu bereiten auf deutschem Boden, noch ihren Staat durch die weltlichen
Gedanken der neuen Zeit zu verjüngen. Ihr Geist, von Alters her
zu überschwänglichem Idealismus geneigt, wird durch die tiefsinnige neue
Theologie den Kämpfen des politischen Lebens ganz entfremdet; das leidsame
Lutherthum versteht nicht die Gunst der Stunde zu befreiender That zu
benutzen. Schimpflich geschlagen im schmalkaldischen Kriege beugt das
waffengewaltige Deutschland zum ersten male seinen Nacken unter das Joch
der Fremden. Dann rettet die wüste Empörung Moritz's von Sachsen
dem deutschen Protestantismus das Dasein und zerstört die hispanische
Herrschaft, aber auch die letzten Bande monarchischer Ordnung, welche
das Reich noch zusammengehalten; in schrankenloser Willkür schaltet fortan
die Libertät der Reichsstände. Nach raschem Wechsel halber Erfolge und
halber Niederlagen schließen die ermüdeten Parteien den vorzeitigen
Religionsfrieden von Augsburg. Es folgen die häßlichsten Zeiten deutscher
Geschichte. Das Reich scheidet freiwillig aus dem Kreise der großen
Mächte, verzichtet auf jeden Antheil an der europäischen Politik. Unbe-
weglich und doch unversöhnt lebt die ungestalte Masse katholischer,
lutherischer, calvinischer Landschaften durch zwei Menschenalter träge
träumend dahin, während dicht an unsern Grenzen die Heere des katho-
lischen Weltreichs ihre Schlachten schlagen, die niederländischen Ketzer um
die Freiheit des Glaubens und die Herrschaft der Meere kämpfen.

I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden.
Ernſt des deutſchen Gewiſſens führte die verweltlichte Kirche zurück zu
der erhabenen Einfalt des evangeliſchen Chriſtenthums; deutſchem Geiſte
entſprang der Gedanke der Befreiung des Staates von der Herrſchaft
der Kirche. Unſer Volk erſtieg zum zweiten male einen Höhepunkt ſeiner
Geſittung, begann ſchlicht und recht die verwegenſte Revolution aller
Zeiten. In anderen germaniſchen Ländern hat der Proteſtantismus
überall die nationale Staatsgewalt geſtärkt, die Vielherrſchaft des Mittel-
alters aufgehoben. In ſeinem Geburtslande vollendete er nur die Auf-
löſung des alten Gemeinweſens. Es ward entſcheidend für alle Zukunft
der deutſchen Monarchie, daß ein Fremdling unſere Krone trug während
jener hoffnungsfrohen Tage, da die Nation frohlockend den Wittenberger
Mönch begrüßte und, bis in ihre Tiefen aufgeregt, eine Neugeſtaltung
des Reiches an Haupt und Gliedern erwartete. Die kaiſerliche Macht,
dermaleinſt der Führer der Deutſchen im Kampfe wider das Papſtthum,
verſagte ſich der kirchlichen, wie der politiſchen Reform. Das Kaiſerthum
der Habsburger ward römiſch, führte die Völker des romaniſchen Süd-
europas ins Feld wider die deutſchen Ketzer und iſt fortan bis zu ſeinem
ruhmloſen Untergange der Feind alles deutſchen Weſens geblieben.

Die evangeliſche Lehre ſucht ihre Zuflucht bei den weltlichen Landes-
herren. Als Beſchützer des deutſchen Glaubens behaupten und bewähren
die Territorialgewalten das Recht ihres Daſeins. Doch die Nation
vermag weder ihrem eigenſten Werke, der Reformation, die Alleinherrſchaft
zu bereiten auf deutſchem Boden, noch ihren Staat durch die weltlichen
Gedanken der neuen Zeit zu verjüngen. Ihr Geiſt, von Alters her
zu überſchwänglichem Idealismus geneigt, wird durch die tiefſinnige neue
Theologie den Kämpfen des politiſchen Lebens ganz entfremdet; das leidſame
Lutherthum verſteht nicht die Gunſt der Stunde zu befreiender That zu
benutzen. Schimpflich geſchlagen im ſchmalkaldiſchen Kriege beugt das
waffengewaltige Deutſchland zum erſten male ſeinen Nacken unter das Joch
der Fremden. Dann rettet die wüſte Empörung Moritz’s von Sachſen
dem deutſchen Proteſtantismus das Daſein und zerſtört die hispaniſche
Herrſchaft, aber auch die letzten Bande monarchiſcher Ordnung, welche
das Reich noch zuſammengehalten; in ſchrankenloſer Willkür ſchaltet fortan
die Libertät der Reichsſtände. Nach raſchem Wechſel halber Erfolge und
halber Niederlagen ſchließen die ermüdeten Parteien den vorzeitigen
Religionsfrieden von Augsburg. Es folgen die häßlichſten Zeiten deutſcher
Geſchichte. Das Reich ſcheidet freiwillig aus dem Kreiſe der großen
Mächte, verzichtet auf jeden Antheil an der europäiſchen Politik. Unbe-
weglich und doch unverſöhnt lebt die ungeſtalte Maſſe katholiſcher,
lutheriſcher, calviniſcher Landſchaften durch zwei Menſchenalter träge
träumend dahin, während dicht an unſern Grenzen die Heere des katho-
liſchen Weltreichs ihre Schlachten ſchlagen, die niederländiſchen Ketzer um
die Freiheit des Glaubens und die Herrſchaft der Meere kämpfen.

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[4/0020] I. 1. Deutſchland nach dem Weſtphäliſchen Frieden. Ernſt des deutſchen Gewiſſens führte die verweltlichte Kirche zurück zu der erhabenen Einfalt des evangeliſchen Chriſtenthums; deutſchem Geiſte entſprang der Gedanke der Befreiung des Staates von der Herrſchaft der Kirche. Unſer Volk erſtieg zum zweiten male einen Höhepunkt ſeiner Geſittung, begann ſchlicht und recht die verwegenſte Revolution aller Zeiten. In anderen germaniſchen Ländern hat der Proteſtantismus überall die nationale Staatsgewalt geſtärkt, die Vielherrſchaft des Mittel- alters aufgehoben. In ſeinem Geburtslande vollendete er nur die Auf- löſung des alten Gemeinweſens. Es ward entſcheidend für alle Zukunft der deutſchen Monarchie, daß ein Fremdling unſere Krone trug während jener hoffnungsfrohen Tage, da die Nation frohlockend den Wittenberger Mönch begrüßte und, bis in ihre Tiefen aufgeregt, eine Neugeſtaltung des Reiches an Haupt und Gliedern erwartete. Die kaiſerliche Macht, dermaleinſt der Führer der Deutſchen im Kampfe wider das Papſtthum, verſagte ſich der kirchlichen, wie der politiſchen Reform. Das Kaiſerthum der Habsburger ward römiſch, führte die Völker des romaniſchen Süd- europas ins Feld wider die deutſchen Ketzer und iſt fortan bis zu ſeinem ruhmloſen Untergange der Feind alles deutſchen Weſens geblieben. Die evangeliſche Lehre ſucht ihre Zuflucht bei den weltlichen Landes- herren. Als Beſchützer des deutſchen Glaubens behaupten und bewähren die Territorialgewalten das Recht ihres Daſeins. Doch die Nation vermag weder ihrem eigenſten Werke, der Reformation, die Alleinherrſchaft zu bereiten auf deutſchem Boden, noch ihren Staat durch die weltlichen Gedanken der neuen Zeit zu verjüngen. Ihr Geiſt, von Alters her zu überſchwänglichem Idealismus geneigt, wird durch die tiefſinnige neue Theologie den Kämpfen des politiſchen Lebens ganz entfremdet; das leidſame Lutherthum verſteht nicht die Gunſt der Stunde zu befreiender That zu benutzen. Schimpflich geſchlagen im ſchmalkaldiſchen Kriege beugt das waffengewaltige Deutſchland zum erſten male ſeinen Nacken unter das Joch der Fremden. Dann rettet die wüſte Empörung Moritz’s von Sachſen dem deutſchen Proteſtantismus das Daſein und zerſtört die hispaniſche Herrſchaft, aber auch die letzten Bande monarchiſcher Ordnung, welche das Reich noch zuſammengehalten; in ſchrankenloſer Willkür ſchaltet fortan die Libertät der Reichsſtände. Nach raſchem Wechſel halber Erfolge und halber Niederlagen ſchließen die ermüdeten Parteien den vorzeitigen Religionsfrieden von Augsburg. Es folgen die häßlichſten Zeiten deutſcher Geſchichte. Das Reich ſcheidet freiwillig aus dem Kreiſe der großen Mächte, verzichtet auf jeden Antheil an der europäiſchen Politik. Unbe- weglich und doch unverſöhnt lebt die ungeſtalte Maſſe katholiſcher, lutheriſcher, calviniſcher Landſchaften durch zwei Menſchenalter träge träumend dahin, während dicht an unſern Grenzen die Heere des katho- liſchen Weltreichs ihre Schlachten ſchlagen, die niederländiſchen Ketzer um die Freiheit des Glaubens und die Herrſchaft der Meere kämpfen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/20>, abgerufen am 18.04.2024.