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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
schlagfertige Centralbehörde als völlig unzulänglich; jedes Departement
ging selbständig seines Wegs, es fehlte die Einheit der Leitung. Noch
immer war dies Beamtenthum der Bureaukratie der deutschen Nachbar-
staaten weit überlegen, thätig, voll patriotischen Stolzes, hochgebildet, ob-
gleich da und dort einzelne Präsidenten mit dem Bildungshasse der Generale
zu wetteifern strebten. Aber die veraltete, zwischen dem Provinzial- und
dem Realsystem mitteninne stehende Organisation der Behörden bewirkte,
daß Niemand in Wahrheit Minister war und den Gang der Verwaltung
übersah. Jedes einfache Geschäft führte zu peinlichen Streitigkeiten über
die Competenz; die Vermehrung der Ministerstellen verstärkte nur das
Uebel. In den alten Beamtenfamilien, die nun seit vielen Jahrzehnten
dem Staatsdienste angehörten, vererbte sich zwar ein lebendiges Gefühl
der Standesehre vom Vater auf den Sohn, aber auch der Dünkel des
grünen Tisches; Neulinge, welche aus der naturfrischen Thätigkeit des Land-
baus in diese Welt des Bureaus hinübertraten, wie der Freiherr vom Stein,
bemerkten mit Unwillen, wie das Actenschreiben hier zum Selbstzweck zu
werden drohte. Eine formenselige Papierthätigkeit nahm überhand und
konnte durch die salbungsvollen Ermahnungen der königlichen Cabinets-
ordres nicht überwunden werden, weil sich der staatsmännische Kopf nicht
fand, der dem Beamtenthum neue positive Aufgaben gestellt hätte. Und
dazu wieder das leidige Bleigewicht der polnischen Provinzen: es blieb
doch ein unerträglicher Zustand, daß die regierende Klasse aus den weiten
Slavenlanden fast gar keinen jungen Nachwuchs erhielt. Die Spottrede
der Gegner, dies Preußen sei ein künstlicher Staat, schien jetzt doch Recht
zu behalten.

Bald nach seiner Thronbesteigung sprach der König gegen den Finanz-
minister Struensee seine Mißbilligung aus über das unhaltbare Prohibitiv-
system, das beständig übertreten werde. Erst sieben Jahre nachher gelang
ihm, die erste Bresche in diese alte Ordnung zu schlagen und durch
Struensees Nachfolger Stein die Binnenzölle größtentheils aufzuheben.
Noch galt die Einrichtung gleichmäßig geordneter Grenzzölle überall in
der Welt als ein vermessenes Wagniß. Wie hoffnungslos sprach Necker
in seinem Rechenschaftsberichte von 1781 über die Frage, ob es wohl
möglich sei die constitution barbare der Provinzialzölle zu beseitigen. Erst
die Revolution begründete die Zolleinheit Frankreichs. Als man sich jetzt
in Preußen an die Aufhebung der Binnenzölle heranwagte, erfuhr man
sofort, daß diese Reform eine halbe Maßregel blieb. Denn noch bestand
die Accise mit ihren 67 verschiedenen Tarifen; vergeblich mahnte eine
Cabinetsordre des Königs, in dies Durcheinander endlich Klarheit zu
bringen. Noch bestand der Gewerbezwang, der die Städte von dem flachen
Lande schied; nur in der Grafschaft Mark hatte Stein schon gewagt diese
trennende Schranke zu beseitigen. Mit den Provinzialzöllen fiel zugleich
die Zollfreiheit der eximirten Klassen, und dieser erste leise Stoß gegen die

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
ſchlagfertige Centralbehörde als völlig unzulänglich; jedes Departement
ging ſelbſtändig ſeines Wegs, es fehlte die Einheit der Leitung. Noch
immer war dies Beamtenthum der Bureaukratie der deutſchen Nachbar-
ſtaaten weit überlegen, thätig, voll patriotiſchen Stolzes, hochgebildet, ob-
gleich da und dort einzelne Präſidenten mit dem Bildungshaſſe der Generale
zu wetteifern ſtrebten. Aber die veraltete, zwiſchen dem Provinzial- und
dem Realſyſtem mitteninne ſtehende Organiſation der Behörden bewirkte,
daß Niemand in Wahrheit Miniſter war und den Gang der Verwaltung
überſah. Jedes einfache Geſchäft führte zu peinlichen Streitigkeiten über
die Competenz; die Vermehrung der Miniſterſtellen verſtärkte nur das
Uebel. In den alten Beamtenfamilien, die nun ſeit vielen Jahrzehnten
dem Staatsdienſte angehörten, vererbte ſich zwar ein lebendiges Gefühl
der Standesehre vom Vater auf den Sohn, aber auch der Dünkel des
grünen Tiſches; Neulinge, welche aus der naturfriſchen Thätigkeit des Land-
baus in dieſe Welt des Bureaus hinübertraten, wie der Freiherr vom Stein,
bemerkten mit Unwillen, wie das Actenſchreiben hier zum Selbſtzweck zu
werden drohte. Eine formenſelige Papierthätigkeit nahm überhand und
konnte durch die ſalbungsvollen Ermahnungen der königlichen Cabinets-
ordres nicht überwunden werden, weil ſich der ſtaatsmänniſche Kopf nicht
fand, der dem Beamtenthum neue poſitive Aufgaben geſtellt hätte. Und
dazu wieder das leidige Bleigewicht der polniſchen Provinzen: es blieb
doch ein unerträglicher Zuſtand, daß die regierende Klaſſe aus den weiten
Slavenlanden faſt gar keinen jungen Nachwuchs erhielt. Die Spottrede
der Gegner, dies Preußen ſei ein künſtlicher Staat, ſchien jetzt doch Recht
zu behalten.

Bald nach ſeiner Thronbeſteigung ſprach der König gegen den Finanz-
miniſter Struenſee ſeine Mißbilligung aus über das unhaltbare Prohibitiv-
ſyſtem, das beſtändig übertreten werde. Erſt ſieben Jahre nachher gelang
ihm, die erſte Breſche in dieſe alte Ordnung zu ſchlagen und durch
Struenſees Nachfolger Stein die Binnenzölle größtentheils aufzuheben.
Noch galt die Einrichtung gleichmäßig geordneter Grenzzölle überall in
der Welt als ein vermeſſenes Wagniß. Wie hoffnungslos ſprach Necker
in ſeinem Rechenſchaftsberichte von 1781 über die Frage, ob es wohl
möglich ſei die constitution barbare der Provinzialzölle zu beſeitigen. Erſt
die Revolution begründete die Zolleinheit Frankreichs. Als man ſich jetzt
in Preußen an die Aufhebung der Binnenzölle heranwagte, erfuhr man
ſofort, daß dieſe Reform eine halbe Maßregel blieb. Denn noch beſtand
die Acciſe mit ihren 67 verſchiedenen Tarifen; vergeblich mahnte eine
Cabinetsordre des Königs, in dies Durcheinander endlich Klarheit zu
bringen. Noch beſtand der Gewerbezwang, der die Städte von dem flachen
Lande ſchied; nur in der Grafſchaft Mark hatte Stein ſchon gewagt dieſe
trennende Schranke zu beſeitigen. Mit den Provinzialzöllen fiel zugleich
die Zollfreiheit der eximirten Klaſſen, und dieſer erſte leiſe Stoß gegen die

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[156/0172] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. ſchlagfertige Centralbehörde als völlig unzulänglich; jedes Departement ging ſelbſtändig ſeines Wegs, es fehlte die Einheit der Leitung. Noch immer war dies Beamtenthum der Bureaukratie der deutſchen Nachbar- ſtaaten weit überlegen, thätig, voll patriotiſchen Stolzes, hochgebildet, ob- gleich da und dort einzelne Präſidenten mit dem Bildungshaſſe der Generale zu wetteifern ſtrebten. Aber die veraltete, zwiſchen dem Provinzial- und dem Realſyſtem mitteninne ſtehende Organiſation der Behörden bewirkte, daß Niemand in Wahrheit Miniſter war und den Gang der Verwaltung überſah. Jedes einfache Geſchäft führte zu peinlichen Streitigkeiten über die Competenz; die Vermehrung der Miniſterſtellen verſtärkte nur das Uebel. In den alten Beamtenfamilien, die nun ſeit vielen Jahrzehnten dem Staatsdienſte angehörten, vererbte ſich zwar ein lebendiges Gefühl der Standesehre vom Vater auf den Sohn, aber auch der Dünkel des grünen Tiſches; Neulinge, welche aus der naturfriſchen Thätigkeit des Land- baus in dieſe Welt des Bureaus hinübertraten, wie der Freiherr vom Stein, bemerkten mit Unwillen, wie das Actenſchreiben hier zum Selbſtzweck zu werden drohte. Eine formenſelige Papierthätigkeit nahm überhand und konnte durch die ſalbungsvollen Ermahnungen der königlichen Cabinets- ordres nicht überwunden werden, weil ſich der ſtaatsmänniſche Kopf nicht fand, der dem Beamtenthum neue poſitive Aufgaben geſtellt hätte. Und dazu wieder das leidige Bleigewicht der polniſchen Provinzen: es blieb doch ein unerträglicher Zuſtand, daß die regierende Klaſſe aus den weiten Slavenlanden faſt gar keinen jungen Nachwuchs erhielt. Die Spottrede der Gegner, dies Preußen ſei ein künſtlicher Staat, ſchien jetzt doch Recht zu behalten. Bald nach ſeiner Thronbeſteigung ſprach der König gegen den Finanz- miniſter Struenſee ſeine Mißbilligung aus über das unhaltbare Prohibitiv- ſyſtem, das beſtändig übertreten werde. Erſt ſieben Jahre nachher gelang ihm, die erſte Breſche in dieſe alte Ordnung zu ſchlagen und durch Struenſees Nachfolger Stein die Binnenzölle größtentheils aufzuheben. Noch galt die Einrichtung gleichmäßig geordneter Grenzzölle überall in der Welt als ein vermeſſenes Wagniß. Wie hoffnungslos ſprach Necker in ſeinem Rechenſchaftsberichte von 1781 über die Frage, ob es wohl möglich ſei die constitution barbare der Provinzialzölle zu beſeitigen. Erſt die Revolution begründete die Zolleinheit Frankreichs. Als man ſich jetzt in Preußen an die Aufhebung der Binnenzölle heranwagte, erfuhr man ſofort, daß dieſe Reform eine halbe Maßregel blieb. Denn noch beſtand die Acciſe mit ihren 67 verſchiedenen Tarifen; vergeblich mahnte eine Cabinetsordre des Königs, in dies Durcheinander endlich Klarheit zu bringen. Noch beſtand der Gewerbezwang, der die Städte von dem flachen Lande ſchied; nur in der Grafſchaft Mark hatte Stein ſchon gewagt dieſe trennende Schranke zu beſeitigen. Mit den Provinzialzöllen fiel zugleich die Zollfreiheit der eximirten Klaſſen, und dieſer erſte leiſe Stoß gegen die

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/172>, abgerufen am 19.04.2024.