Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
gewonnene polnische Besitz verhinderte vielmehr jahrelang jede Fortbildung
der Verwaltung.

Der Baseler Vertrag, der dem Könige die angesehene Stellung
eines europäischen Friedensvermittlers hatte bringen sollen, bewirkte nur,
daß die gesammte Staatengesellschaft sich von Preußen abwendete. An
den beiden Kaiserhöfen erregte die Botschaft aus Basel leidenschaftliche
Entrüstung; sie hielten für schwarzen Verrath was rathlose Schwäche
war -- ein sehr begreiflicher Irrthum, da Preußen nur noch von den
Siegen der Republik Vortheil ziehen konnte. Beide Höfe blieben fest
davon überzeugt, daß Preußen mit Frankreich unter einer Decke spiele;
sie trauten den Rathgebern des Königs das Aergste zu, sie glaubten im
Ernste, daß Preußen auf einen Angriffskriegs sinne, insgeheim die Türken
und Schweden gegen Katharina aufzustacheln suche. Thugut versammelte
bereits ein Heer an der schlesischen Grenze, mahnte das russische Cabinet
in ungestümen Depeschen zum Vernichtungskriege gegen den "natürlichen
Feind", entwarf einen abenteuerlichen Plan: wie man Preußen aller seiner
polnischen Provinzen, auch Westpreußens, berauben wolle; Suworow sollte
die Russen gegen die preußische Hauptstadt führen. Die Kriegsrüstungen
gegen die norddeutsche Macht brachten den rheinischen Krieg während des
ganzen Sommers zum Stillstande. Erst im Herbst überzeugte man sich,
daß von Preußens Schwäche nichts zu fürchten sei, und zugleich erkannte
Thugut die Unmöglichkeit einer Verständigung mit der Republik. Die
Erhaltung der Reichsgrenzen lag dem Gedankengange seiner harten Inter-
essenpolitik fern; er war bereit das linke Rheinufer zu opfern, wenn
Oesterreich die bairischen Erblande erhielte. Der Pflichten des Kaiser-
thums gedachte in der Hofburg Niemand; stellte man doch dem Peters-
burger Hofe ausdrücklich frei, die russischen Truppen möchten in Deutsch-
land nach Gutdünken hausen und die von Oesterreich abgefallenen
Reichsstände züchtigen. Nur über die italienischen Dinge konnte man sich
nicht einigen: Thugut hoffte das Gebiet der neutralen Republik Venedig
zu der Lombardei hinzu zu gewinnen, während Frankreich den Schlüssel
Italiens, Mailand, nicht in Oesterreichs Händen lassen wollte. Deshalb
fuhren die Schwerter im Herbst 1795 abermals aus der Scheide; der
Wiener Hof dachte am Rhein Venetien zu erobern. Und wie der Krieg
um Italiens willen erneuert wurde, so sollte er auch in Italien seine
Entscheidung finden. Mit Rußland und England durch eine neue Tripel-
Allianz fester denn je verbündet, von Pitt mit reichlichen Hilfsgeldern unter-
stützt, stürzte sich Thugut in den unabsehbaren Kampf. Hüben und drüben
herrschte die rohe Begierde, die Verhöhnung jedes Rechtes; ob Frankreich,
ob Oesterreich siegte, der Untergang des alten Völkerrechtes war gewiß.
Und während dieses unheimlichen Ringens blieb der Staat neutral, dem
einst Freund und Feind nachsagten, daß er die Wage des europäischen
Gleichgewichts in seinen Händen halte!

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
gewonnene polniſche Beſitz verhinderte vielmehr jahrelang jede Fortbildung
der Verwaltung.

Der Baſeler Vertrag, der dem Könige die angeſehene Stellung
eines europäiſchen Friedensvermittlers hatte bringen ſollen, bewirkte nur,
daß die geſammte Staatengeſellſchaft ſich von Preußen abwendete. An
den beiden Kaiſerhöfen erregte die Botſchaft aus Baſel leidenſchaftliche
Entrüſtung; ſie hielten für ſchwarzen Verrath was rathloſe Schwäche
war — ein ſehr begreiflicher Irrthum, da Preußen nur noch von den
Siegen der Republik Vortheil ziehen konnte. Beide Höfe blieben feſt
davon überzeugt, daß Preußen mit Frankreich unter einer Decke ſpiele;
ſie trauten den Rathgebern des Königs das Aergſte zu, ſie glaubten im
Ernſte, daß Preußen auf einen Angriffskriegs ſinne, insgeheim die Türken
und Schweden gegen Katharina aufzuſtacheln ſuche. Thugut verſammelte
bereits ein Heer an der ſchleſiſchen Grenze, mahnte das ruſſiſche Cabinet
in ungeſtümen Depeſchen zum Vernichtungskriege gegen den „natürlichen
Feind“, entwarf einen abenteuerlichen Plan: wie man Preußen aller ſeiner
polniſchen Provinzen, auch Weſtpreußens, berauben wolle; Suworow ſollte
die Ruſſen gegen die preußiſche Hauptſtadt führen. Die Kriegsrüſtungen
gegen die norddeutſche Macht brachten den rheiniſchen Krieg während des
ganzen Sommers zum Stillſtande. Erſt im Herbſt überzeugte man ſich,
daß von Preußens Schwäche nichts zu fürchten ſei, und zugleich erkannte
Thugut die Unmöglichkeit einer Verſtändigung mit der Republik. Die
Erhaltung der Reichsgrenzen lag dem Gedankengange ſeiner harten Inter-
eſſenpolitik fern; er war bereit das linke Rheinufer zu opfern, wenn
Oeſterreich die bairiſchen Erblande erhielte. Der Pflichten des Kaiſer-
thums gedachte in der Hofburg Niemand; ſtellte man doch dem Peters-
burger Hofe ausdrücklich frei, die ruſſiſchen Truppen möchten in Deutſch-
land nach Gutdünken hauſen und die von Oeſterreich abgefallenen
Reichsſtände züchtigen. Nur über die italieniſchen Dinge konnte man ſich
nicht einigen: Thugut hoffte das Gebiet der neutralen Republik Venedig
zu der Lombardei hinzu zu gewinnen, während Frankreich den Schlüſſel
Italiens, Mailand, nicht in Oeſterreichs Händen laſſen wollte. Deshalb
fuhren die Schwerter im Herbſt 1795 abermals aus der Scheide; der
Wiener Hof dachte am Rhein Venetien zu erobern. Und wie der Krieg
um Italiens willen erneuert wurde, ſo ſollte er auch in Italien ſeine
Entſcheidung finden. Mit Rußland und England durch eine neue Tripel-
Allianz feſter denn je verbündet, von Pitt mit reichlichen Hilfsgeldern unter-
ſtützt, ſtürzte ſich Thugut in den unabſehbaren Kampf. Hüben und drüben
herrſchte die rohe Begierde, die Verhöhnung jedes Rechtes; ob Frankreich,
ob Oeſterreich ſiegte, der Untergang des alten Völkerrechtes war gewiß.
Und während dieſes unheimlichen Ringens blieb der Staat neutral, dem
einſt Freund und Feind nachſagten, daß er die Wage des europäiſchen
Gleichgewichts in ſeinen Händen halte!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0158" n="142"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 2. Revolution und Fremdherr&#x017F;chaft.</fw><lb/>
gewonnene polni&#x017F;che Be&#x017F;itz verhinderte vielmehr jahrelang jede Fortbildung<lb/>
der Verwaltung.</p><lb/>
            <p>Der Ba&#x017F;eler Vertrag, der dem Könige die ange&#x017F;ehene Stellung<lb/>
eines europäi&#x017F;chen Friedensvermittlers hatte bringen &#x017F;ollen, bewirkte nur,<lb/>
daß die ge&#x017F;ammte Staatenge&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;ich von Preußen abwendete. An<lb/>
den beiden Kai&#x017F;erhöfen erregte die Bot&#x017F;chaft aus Ba&#x017F;el leiden&#x017F;chaftliche<lb/>
Entrü&#x017F;tung; &#x017F;ie hielten für &#x017F;chwarzen Verrath was rathlo&#x017F;e Schwäche<lb/>
war &#x2014; ein &#x017F;ehr begreiflicher Irrthum, da Preußen nur noch von den<lb/>
Siegen der Republik Vortheil ziehen konnte. Beide Höfe blieben fe&#x017F;t<lb/>
davon überzeugt, daß Preußen mit Frankreich unter einer Decke &#x017F;piele;<lb/>
&#x017F;ie trauten den Rathgebern des Königs das Aerg&#x017F;te zu, &#x017F;ie glaubten im<lb/>
Ern&#x017F;te, daß Preußen auf einen Angriffskriegs &#x017F;inne, insgeheim die Türken<lb/>
und Schweden gegen Katharina aufzu&#x017F;tacheln &#x017F;uche. Thugut ver&#x017F;ammelte<lb/>
bereits ein Heer an der &#x017F;chle&#x017F;i&#x017F;chen Grenze, mahnte das ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Cabinet<lb/>
in unge&#x017F;tümen Depe&#x017F;chen zum Vernichtungskriege gegen den &#x201E;natürlichen<lb/>
Feind&#x201C;, entwarf einen abenteuerlichen Plan: wie man Preußen aller &#x017F;einer<lb/>
polni&#x017F;chen Provinzen, auch We&#x017F;tpreußens, berauben wolle; Suworow &#x017F;ollte<lb/>
die Ru&#x017F;&#x017F;en gegen die preußi&#x017F;che Haupt&#x017F;tadt führen. Die Kriegsrü&#x017F;tungen<lb/>
gegen die norddeut&#x017F;che Macht brachten den rheini&#x017F;chen Krieg während des<lb/>
ganzen Sommers zum Still&#x017F;tande. Er&#x017F;t im Herb&#x017F;t überzeugte man &#x017F;ich,<lb/>
daß von Preußens Schwäche nichts zu fürchten &#x017F;ei, und zugleich erkannte<lb/>
Thugut die Unmöglichkeit einer Ver&#x017F;tändigung mit der Republik. Die<lb/>
Erhaltung der Reichsgrenzen lag dem Gedankengange &#x017F;einer harten Inter-<lb/>
e&#x017F;&#x017F;enpolitik fern; er war bereit das linke Rheinufer zu opfern, wenn<lb/>
Oe&#x017F;terreich die bairi&#x017F;chen Erblande erhielte. Der Pflichten des Kai&#x017F;er-<lb/>
thums gedachte in der Hofburg Niemand; &#x017F;tellte man doch dem Peters-<lb/>
burger Hofe ausdrücklich frei, die ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Truppen möchten in Deut&#x017F;ch-<lb/>
land nach Gutdünken hau&#x017F;en und die von Oe&#x017F;terreich abgefallenen<lb/>
Reichs&#x017F;tände züchtigen. Nur über die italieni&#x017F;chen Dinge konnte man &#x017F;ich<lb/>
nicht einigen: Thugut hoffte das Gebiet der neutralen Republik Venedig<lb/>
zu der Lombardei hinzu zu gewinnen, während Frankreich den Schlü&#x017F;&#x017F;el<lb/>
Italiens, Mailand, nicht in Oe&#x017F;terreichs Händen la&#x017F;&#x017F;en wollte. Deshalb<lb/>
fuhren die Schwerter im Herb&#x017F;t 1795 abermals aus der Scheide; der<lb/>
Wiener Hof dachte am Rhein Venetien zu erobern. Und wie der Krieg<lb/>
um Italiens willen erneuert wurde, &#x017F;o &#x017F;ollte er auch in Italien &#x017F;eine<lb/>
Ent&#x017F;cheidung finden. Mit Rußland und England durch eine neue Tripel-<lb/>
Allianz fe&#x017F;ter denn je verbündet, von Pitt mit reichlichen Hilfsgeldern unter-<lb/>
&#x017F;tützt, &#x017F;türzte &#x017F;ich Thugut in den unab&#x017F;ehbaren Kampf. Hüben und drüben<lb/>
herr&#x017F;chte die rohe Begierde, die Verhöhnung jedes Rechtes; ob Frankreich,<lb/>
ob Oe&#x017F;terreich &#x017F;iegte, der Untergang des alten Völkerrechtes war gewiß.<lb/>
Und während die&#x017F;es unheimlichen Ringens blieb der Staat neutral, dem<lb/>
ein&#x017F;t Freund und Feind nach&#x017F;agten, daß er die Wage des europäi&#x017F;chen<lb/>
Gleichgewichts in &#x017F;einen Händen halte!</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[142/0158] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. gewonnene polniſche Beſitz verhinderte vielmehr jahrelang jede Fortbildung der Verwaltung. Der Baſeler Vertrag, der dem Könige die angeſehene Stellung eines europäiſchen Friedensvermittlers hatte bringen ſollen, bewirkte nur, daß die geſammte Staatengeſellſchaft ſich von Preußen abwendete. An den beiden Kaiſerhöfen erregte die Botſchaft aus Baſel leidenſchaftliche Entrüſtung; ſie hielten für ſchwarzen Verrath was rathloſe Schwäche war — ein ſehr begreiflicher Irrthum, da Preußen nur noch von den Siegen der Republik Vortheil ziehen konnte. Beide Höfe blieben feſt davon überzeugt, daß Preußen mit Frankreich unter einer Decke ſpiele; ſie trauten den Rathgebern des Königs das Aergſte zu, ſie glaubten im Ernſte, daß Preußen auf einen Angriffskriegs ſinne, insgeheim die Türken und Schweden gegen Katharina aufzuſtacheln ſuche. Thugut verſammelte bereits ein Heer an der ſchleſiſchen Grenze, mahnte das ruſſiſche Cabinet in ungeſtümen Depeſchen zum Vernichtungskriege gegen den „natürlichen Feind“, entwarf einen abenteuerlichen Plan: wie man Preußen aller ſeiner polniſchen Provinzen, auch Weſtpreußens, berauben wolle; Suworow ſollte die Ruſſen gegen die preußiſche Hauptſtadt führen. Die Kriegsrüſtungen gegen die norddeutſche Macht brachten den rheiniſchen Krieg während des ganzen Sommers zum Stillſtande. Erſt im Herbſt überzeugte man ſich, daß von Preußens Schwäche nichts zu fürchten ſei, und zugleich erkannte Thugut die Unmöglichkeit einer Verſtändigung mit der Republik. Die Erhaltung der Reichsgrenzen lag dem Gedankengange ſeiner harten Inter- eſſenpolitik fern; er war bereit das linke Rheinufer zu opfern, wenn Oeſterreich die bairiſchen Erblande erhielte. Der Pflichten des Kaiſer- thums gedachte in der Hofburg Niemand; ſtellte man doch dem Peters- burger Hofe ausdrücklich frei, die ruſſiſchen Truppen möchten in Deutſch- land nach Gutdünken hauſen und die von Oeſterreich abgefallenen Reichsſtände züchtigen. Nur über die italieniſchen Dinge konnte man ſich nicht einigen: Thugut hoffte das Gebiet der neutralen Republik Venedig zu der Lombardei hinzu zu gewinnen, während Frankreich den Schlüſſel Italiens, Mailand, nicht in Oeſterreichs Händen laſſen wollte. Deshalb fuhren die Schwerter im Herbſt 1795 abermals aus der Scheide; der Wiener Hof dachte am Rhein Venetien zu erobern. Und wie der Krieg um Italiens willen erneuert wurde, ſo ſollte er auch in Italien ſeine Entſcheidung finden. Mit Rußland und England durch eine neue Tripel- Allianz feſter denn je verbündet, von Pitt mit reichlichen Hilfsgeldern unter- ſtützt, ſtürzte ſich Thugut in den unabſehbaren Kampf. Hüben und drüben herrſchte die rohe Begierde, die Verhöhnung jedes Rechtes; ob Frankreich, ob Oeſterreich ſiegte, der Untergang des alten Völkerrechtes war gewiß. Und während dieſes unheimlichen Ringens blieb der Staat neutral, dem einſt Freund und Feind nachſagten, daß er die Wage des europäiſchen Gleichgewichts in ſeinen Händen halte!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/158
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/158>, abgerufen am 29.03.2024.