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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
Volkes sich so herrlich zu bewähren schien und das Ausland bewundernd
nach der Hauptstadt der Welt blickte, meinte man sich berufen der weiten
Erde Gesetze zu geben. Die Nation war gewöhnt jedes fremde Recht zu
mißachten, sie wähnte, daß ihre Bildung noch immer der ganzen Welt
zum Muster diene, wie einst in dem Zeitalter Ludwigs XIV.; von der
neuen eigenartigen Cultur, die in Deutschland erwacht war, wußte sie
nichts. Schon die Erklärung der Menschenrechte erhob den anmaßenden
Anspruch allen Völkern als Richtschnur zu gelten, und Lafayette begrüßte
die neue Tricolore mit der Weissagung, sie werde die Runde um den
Erdkreis machen. Seitdem wuchs die Macht der revolutionären Propa-
ganda; die innere Zerrüttung aller Nachbarlande, Italiens und Spaniens,
Hollands und Belgiens, der Schweiz und der deutschen Kleinstaaten ver-
sprach ihr leichte Beute. Ein Weltkampf, wie ihn Europa seit den Tagen
der Religionskriege nicht mehr gesehen, war im Anzuge, wenn alle die
gräßliche Fäulniß, die sich unter der Bourbonenherrschaft in Frankreich
angesammelt, die Sittenlosigkeit der höheren, die rohe Unwissenheit der
niederen Stände, und mit ihr zugleich die dämonische Macht der Gedanken
eines neuen Zeitalters über diese wehrlose Staatenwelt verheerend herein-
flutheten.

Bereits war der erste Schlag gegen die Rechte des deutschen Reichs
gefallen: die Reichsstände im Elsaß wurden ihrer grundherrlichen Rechte,
die Kirchenfürsten ihrer geistlichen Güter beraubt, offenkundigen Verträgen
zuwider, des Reiches ungefragt. So trat die alte große Machtfrage, die
zwischen den beiden Nachbarvölkern schwebte, der niemals völlig ausge-
tragene Kampf um die rheinischen Lande in wunderlich verzerrter Gestalt
abermals an Deutschland heran. Die Nothwendigkeit des Gewaltstreiches
ließ sich nicht schlechthin bestreiten; Jedermann kannte die trostlose Lage jener
unglücklichen Elsasser Bauern, die zugleich der Krone Frankreich Steuern
und den kleinen deutschen Herren Lehensabgaben zu leisten hatten; erst
durch diese befreiende That der Revolution wurden die Herzen des Land-
volks in dem deutschen Lande ganz für Frankreich gewonnen. Sollte
Preußen, sollten die verständigen weltlichen Reichsfürsten, die selber mit
dem Kirchengute längst aufgeräumt hatten und bedachtsam an der Be-
freiung ihrer Bauern arbeiteten, jetzt mit den Waffen eintreten für die
Zehnten der Bischöfe von Trier und Speyer, für die Herrengerichte der
Wurmser und Leiningen, für dies Gewimmel kleiner Fürsten und Herren,
das am Reichstage gehorsam in omnibus sicut Austria stimmte und im
Norden nur mit Achselzucken angesehen wurde? Der Kampf gegen Frank-
reich konnte leicht zu einem Principienkriege gegen die Revolution werden,
denn der Radicalismus des Krieges duldet keine Mittelstellung. Die Emi-
granten schürten und drängten an allen Höfen; fuhr das Schwert aus
der Scheide, so lag die Gefahr nahe, daß diese geschworenen Feinde der
Revolution die Oberhand gewannen und die deutschen Mächte fortrissen

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
Volkes ſich ſo herrlich zu bewähren ſchien und das Ausland bewundernd
nach der Hauptſtadt der Welt blickte, meinte man ſich berufen der weiten
Erde Geſetze zu geben. Die Nation war gewöhnt jedes fremde Recht zu
mißachten, ſie wähnte, daß ihre Bildung noch immer der ganzen Welt
zum Muſter diene, wie einſt in dem Zeitalter Ludwigs XIV.; von der
neuen eigenartigen Cultur, die in Deutſchland erwacht war, wußte ſie
nichts. Schon die Erklärung der Menſchenrechte erhob den anmaßenden
Anſpruch allen Völkern als Richtſchnur zu gelten, und Lafayette begrüßte
die neue Tricolore mit der Weiſſagung, ſie werde die Runde um den
Erdkreis machen. Seitdem wuchs die Macht der revolutionären Propa-
ganda; die innere Zerrüttung aller Nachbarlande, Italiens und Spaniens,
Hollands und Belgiens, der Schweiz und der deutſchen Kleinſtaaten ver-
ſprach ihr leichte Beute. Ein Weltkampf, wie ihn Europa ſeit den Tagen
der Religionskriege nicht mehr geſehen, war im Anzuge, wenn alle die
gräßliche Fäulniß, die ſich unter der Bourbonenherrſchaft in Frankreich
angeſammelt, die Sittenloſigkeit der höheren, die rohe Unwiſſenheit der
niederen Stände, und mit ihr zugleich die dämoniſche Macht der Gedanken
eines neuen Zeitalters über dieſe wehrloſe Staatenwelt verheerend herein-
flutheten.

Bereits war der erſte Schlag gegen die Rechte des deutſchen Reichs
gefallen: die Reichsſtände im Elſaß wurden ihrer grundherrlichen Rechte,
die Kirchenfürſten ihrer geiſtlichen Güter beraubt, offenkundigen Verträgen
zuwider, des Reiches ungefragt. So trat die alte große Machtfrage, die
zwiſchen den beiden Nachbarvölkern ſchwebte, der niemals völlig ausge-
tragene Kampf um die rheiniſchen Lande in wunderlich verzerrter Geſtalt
abermals an Deutſchland heran. Die Nothwendigkeit des Gewaltſtreiches
ließ ſich nicht ſchlechthin beſtreiten; Jedermann kannte die troſtloſe Lage jener
unglücklichen Elſaſſer Bauern, die zugleich der Krone Frankreich Steuern
und den kleinen deutſchen Herren Lehensabgaben zu leiſten hatten; erſt
durch dieſe befreiende That der Revolution wurden die Herzen des Land-
volks in dem deutſchen Lande ganz für Frankreich gewonnen. Sollte
Preußen, ſollten die verſtändigen weltlichen Reichsfürſten, die ſelber mit
dem Kirchengute längſt aufgeräumt hatten und bedachtſam an der Be-
freiung ihrer Bauern arbeiteten, jetzt mit den Waffen eintreten für die
Zehnten der Biſchöfe von Trier und Speyer, für die Herrengerichte der
Wurmſer und Leiningen, für dies Gewimmel kleiner Fürſten und Herren,
das am Reichstage gehorſam in omnibus sicut Austria ſtimmte und im
Norden nur mit Achſelzucken angeſehen wurde? Der Kampf gegen Frank-
reich konnte leicht zu einem Principienkriege gegen die Revolution werden,
denn der Radicalismus des Krieges duldet keine Mittelſtellung. Die Emi-
granten ſchürten und drängten an allen Höfen; fuhr das Schwert aus
der Scheide, ſo lag die Gefahr nahe, daß dieſe geſchworenen Feinde der
Revolution die Oberhand gewannen und die deutſchen Mächte fortriſſen

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[120/0136] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. Volkes ſich ſo herrlich zu bewähren ſchien und das Ausland bewundernd nach der Hauptſtadt der Welt blickte, meinte man ſich berufen der weiten Erde Geſetze zu geben. Die Nation war gewöhnt jedes fremde Recht zu mißachten, ſie wähnte, daß ihre Bildung noch immer der ganzen Welt zum Muſter diene, wie einſt in dem Zeitalter Ludwigs XIV.; von der neuen eigenartigen Cultur, die in Deutſchland erwacht war, wußte ſie nichts. Schon die Erklärung der Menſchenrechte erhob den anmaßenden Anſpruch allen Völkern als Richtſchnur zu gelten, und Lafayette begrüßte die neue Tricolore mit der Weiſſagung, ſie werde die Runde um den Erdkreis machen. Seitdem wuchs die Macht der revolutionären Propa- ganda; die innere Zerrüttung aller Nachbarlande, Italiens und Spaniens, Hollands und Belgiens, der Schweiz und der deutſchen Kleinſtaaten ver- ſprach ihr leichte Beute. Ein Weltkampf, wie ihn Europa ſeit den Tagen der Religionskriege nicht mehr geſehen, war im Anzuge, wenn alle die gräßliche Fäulniß, die ſich unter der Bourbonenherrſchaft in Frankreich angeſammelt, die Sittenloſigkeit der höheren, die rohe Unwiſſenheit der niederen Stände, und mit ihr zugleich die dämoniſche Macht der Gedanken eines neuen Zeitalters über dieſe wehrloſe Staatenwelt verheerend herein- flutheten. Bereits war der erſte Schlag gegen die Rechte des deutſchen Reichs gefallen: die Reichsſtände im Elſaß wurden ihrer grundherrlichen Rechte, die Kirchenfürſten ihrer geiſtlichen Güter beraubt, offenkundigen Verträgen zuwider, des Reiches ungefragt. So trat die alte große Machtfrage, die zwiſchen den beiden Nachbarvölkern ſchwebte, der niemals völlig ausge- tragene Kampf um die rheiniſchen Lande in wunderlich verzerrter Geſtalt abermals an Deutſchland heran. Die Nothwendigkeit des Gewaltſtreiches ließ ſich nicht ſchlechthin beſtreiten; Jedermann kannte die troſtloſe Lage jener unglücklichen Elſaſſer Bauern, die zugleich der Krone Frankreich Steuern und den kleinen deutſchen Herren Lehensabgaben zu leiſten hatten; erſt durch dieſe befreiende That der Revolution wurden die Herzen des Land- volks in dem deutſchen Lande ganz für Frankreich gewonnen. Sollte Preußen, ſollten die verſtändigen weltlichen Reichsfürſten, die ſelber mit dem Kirchengute längſt aufgeräumt hatten und bedachtſam an der Be- freiung ihrer Bauern arbeiteten, jetzt mit den Waffen eintreten für die Zehnten der Biſchöfe von Trier und Speyer, für die Herrengerichte der Wurmſer und Leiningen, für dies Gewimmel kleiner Fürſten und Herren, das am Reichstage gehorſam in omnibus sicut Austria ſtimmte und im Norden nur mit Achſelzucken angeſehen wurde? Der Kampf gegen Frank- reich konnte leicht zu einem Principienkriege gegen die Revolution werden, denn der Radicalismus des Krieges duldet keine Mittelſtellung. Die Emi- granten ſchürten und drängten an allen Höfen; fuhr das Schwert aus der Scheide, ſo lag die Gefahr nahe, daß dieſe geſchworenen Feinde der Revolution die Oberhand gewannen und die deutſchen Mächte fortriſſen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/136>, abgerufen am 28.03.2024.