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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 2. Revolution und Fremdherrschaft.
neuen, lebensvollen Staatsanschauung heraus, die mit dem erwachenden
historischen Sinne der deutschen Wissenschaft fest zusammenhing. Dem
weltbürgerlichen Radicalismus der Revolution trat eine historische Staats-
lehre entgegen; sie bekämpfte den selbstgefälligen Wahn seichter Köpfe,
welche die überwundene Grille einer alleinseligmachenden Kirche in die
Politik einzuführen, die reiche Mannichfaltigkeit nationaler Staats- und
Rechtsbildung durch einen Katechismus naturrechtlicher Gemeinplätze zu
verdrängen gedächten; sie widerlegte den Aberglauben an die Vernunft
der Mehrheit durch den schneidigen Satz: nicht die Mehrheitsherrschaft,
sondern das liberum veto sei natürlichen Rechtens; sie vertheidigte die
Macht des Staates wider den zügellosen Individualismus des Zeitalters
und hielt der Begehrlichkeit des souveränen Ich die tiefe Wahrheit ent-
gegen: "politische Freiheit ist politisch beschränkte Freiheit."

Lange Jahre voll schwerer Erfahrungen sollten noch vergehen, bis
die Gebildeten der Nation diese Sprache verstehen lernten. Vorläufig
ließ man sich in seiner Ruheseligkeit nicht stören, und noch weniger war
in den niederen Schichten des Volks irgendwelche gefährliche politische
Aufregung zu bemerken. Deutschlands Unheil lag in der Kleinstaaterei und
der Fäulniß der Reichsverfassung; und wie hätte der stillvergnügte Par-
ticularismus der Massen diese Grundschäden des deutschen Lebens erkennen
sollen? Die inneren Zustände der größeren weltlichen Staaten, soweit
sie der Geist des fridericianischen Zeitalters berührt hatte, boten zu leiden-
schaftlichem Unwillen keinen Anlaß. Viele der politischen Gedanken, welche
die Halbbildung heutzutage als "Ideen von 89" zu feiern pflegt, waren
in Preußen längst durchgeführt oder der Verwirklichung nahe: die Ge-
wissensfreiheit bestand von Altersher, desgleichen eine wenig beschränkte
Freiheit der Presse, die Kirchen waren im evangelischen Norden fast überall
der Hoheit des Staates untergeordnet und ihre Güter secularisirt; eine
wohlmeinende landesherrliche Verwaltung setzte den Herrenrechten des
Adels enge Schranken, und was noch aufrecht stand von den Ueberresten
einer überlebten Gesellschaftsordnung konnte durch einen festen reforma-
torischen Willen friedlich beseitigt werden. Nur in den Kleinstaaten, die
der Gerechtigkeit der Monarchie entbehrten, fanden die Sünden der alt-
französischen Adelsherrschaft ein Gegenbild. Dort im stiftischen Deutsch-
land blühte noch die katholische Glaubenseinheit und die Hoffart adlicher
Domcapitel, in den Reichsstädten waltete die Trägheit und die Corruption
altbürgerlicher Vetterschaft, in den Territorien der Fürsten, Grafen und
Reichsritter die Willkür kleiner Winkeltyrannen; das ganze Dasein dieser
verderbten und verknöcherten Staatsgewalten war ein Hohn auf die Ideen
des Jahrhunderts.

Fast allein in diesen winzigsten Gebieten des Reichs ließ sich, da
aus Frankreich die frohe Kunde der großen Bauernbefreiung kam, eine
leise Gährung im Volke verspüren. Es geschah, daß die Aebtissin von

I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft.
neuen, lebensvollen Staatsanſchauung heraus, die mit dem erwachenden
hiſtoriſchen Sinne der deutſchen Wiſſenſchaft feſt zuſammenhing. Dem
weltbürgerlichen Radicalismus der Revolution trat eine hiſtoriſche Staats-
lehre entgegen; ſie bekämpfte den ſelbſtgefälligen Wahn ſeichter Köpfe,
welche die überwundene Grille einer alleinſeligmachenden Kirche in die
Politik einzuführen, die reiche Mannichfaltigkeit nationaler Staats- und
Rechtsbildung durch einen Katechismus naturrechtlicher Gemeinplätze zu
verdrängen gedächten; ſie widerlegte den Aberglauben an die Vernunft
der Mehrheit durch den ſchneidigen Satz: nicht die Mehrheitsherrſchaft,
ſondern das liberum veto ſei natürlichen Rechtens; ſie vertheidigte die
Macht des Staates wider den zügelloſen Individualismus des Zeitalters
und hielt der Begehrlichkeit des ſouveränen Ich die tiefe Wahrheit ent-
gegen: „politiſche Freiheit iſt politiſch beſchränkte Freiheit.“

Lange Jahre voll ſchwerer Erfahrungen ſollten noch vergehen, bis
die Gebildeten der Nation dieſe Sprache verſtehen lernten. Vorläufig
ließ man ſich in ſeiner Ruheſeligkeit nicht ſtören, und noch weniger war
in den niederen Schichten des Volks irgendwelche gefährliche politiſche
Aufregung zu bemerken. Deutſchlands Unheil lag in der Kleinſtaaterei und
der Fäulniß der Reichsverfaſſung; und wie hätte der ſtillvergnügte Par-
ticularismus der Maſſen dieſe Grundſchäden des deutſchen Lebens erkennen
ſollen? Die inneren Zuſtände der größeren weltlichen Staaten, ſoweit
ſie der Geiſt des fridericianiſchen Zeitalters berührt hatte, boten zu leiden-
ſchaftlichem Unwillen keinen Anlaß. Viele der politiſchen Gedanken, welche
die Halbbildung heutzutage als „Ideen von 89“ zu feiern pflegt, waren
in Preußen längſt durchgeführt oder der Verwirklichung nahe: die Ge-
wiſſensfreiheit beſtand von Altersher, desgleichen eine wenig beſchränkte
Freiheit der Preſſe, die Kirchen waren im evangeliſchen Norden faſt überall
der Hoheit des Staates untergeordnet und ihre Güter ſeculariſirt; eine
wohlmeinende landesherrliche Verwaltung ſetzte den Herrenrechten des
Adels enge Schranken, und was noch aufrecht ſtand von den Ueberreſten
einer überlebten Geſellſchaftsordnung konnte durch einen feſten reforma-
toriſchen Willen friedlich beſeitigt werden. Nur in den Kleinſtaaten, die
der Gerechtigkeit der Monarchie entbehrten, fanden die Sünden der alt-
franzöſiſchen Adelsherrſchaft ein Gegenbild. Dort im ſtiftiſchen Deutſch-
land blühte noch die katholiſche Glaubenseinheit und die Hoffart adlicher
Domcapitel, in den Reichsſtädten waltete die Trägheit und die Corruption
altbürgerlicher Vetterſchaft, in den Territorien der Fürſten, Grafen und
Reichsritter die Willkür kleiner Winkeltyrannen; das ganze Daſein dieſer
verderbten und verknöcherten Staatsgewalten war ein Hohn auf die Ideen
des Jahrhunderts.

Faſt allein in dieſen winzigſten Gebieten des Reichs ließ ſich, da
aus Frankreich die frohe Kunde der großen Bauernbefreiung kam, eine
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[118/0134] I. 2. Revolution und Fremdherrſchaft. neuen, lebensvollen Staatsanſchauung heraus, die mit dem erwachenden hiſtoriſchen Sinne der deutſchen Wiſſenſchaft feſt zuſammenhing. Dem weltbürgerlichen Radicalismus der Revolution trat eine hiſtoriſche Staats- lehre entgegen; ſie bekämpfte den ſelbſtgefälligen Wahn ſeichter Köpfe, welche die überwundene Grille einer alleinſeligmachenden Kirche in die Politik einzuführen, die reiche Mannichfaltigkeit nationaler Staats- und Rechtsbildung durch einen Katechismus naturrechtlicher Gemeinplätze zu verdrängen gedächten; ſie widerlegte den Aberglauben an die Vernunft der Mehrheit durch den ſchneidigen Satz: nicht die Mehrheitsherrſchaft, ſondern das liberum veto ſei natürlichen Rechtens; ſie vertheidigte die Macht des Staates wider den zügelloſen Individualismus des Zeitalters und hielt der Begehrlichkeit des ſouveränen Ich die tiefe Wahrheit ent- gegen: „politiſche Freiheit iſt politiſch beſchränkte Freiheit.“ Lange Jahre voll ſchwerer Erfahrungen ſollten noch vergehen, bis die Gebildeten der Nation dieſe Sprache verſtehen lernten. Vorläufig ließ man ſich in ſeiner Ruheſeligkeit nicht ſtören, und noch weniger war in den niederen Schichten des Volks irgendwelche gefährliche politiſche Aufregung zu bemerken. Deutſchlands Unheil lag in der Kleinſtaaterei und der Fäulniß der Reichsverfaſſung; und wie hätte der ſtillvergnügte Par- ticularismus der Maſſen dieſe Grundſchäden des deutſchen Lebens erkennen ſollen? Die inneren Zuſtände der größeren weltlichen Staaten, ſoweit ſie der Geiſt des fridericianiſchen Zeitalters berührt hatte, boten zu leiden- ſchaftlichem Unwillen keinen Anlaß. Viele der politiſchen Gedanken, welche die Halbbildung heutzutage als „Ideen von 89“ zu feiern pflegt, waren in Preußen längſt durchgeführt oder der Verwirklichung nahe: die Ge- wiſſensfreiheit beſtand von Altersher, desgleichen eine wenig beſchränkte Freiheit der Preſſe, die Kirchen waren im evangeliſchen Norden faſt überall der Hoheit des Staates untergeordnet und ihre Güter ſeculariſirt; eine wohlmeinende landesherrliche Verwaltung ſetzte den Herrenrechten des Adels enge Schranken, und was noch aufrecht ſtand von den Ueberreſten einer überlebten Geſellſchaftsordnung konnte durch einen feſten reforma- toriſchen Willen friedlich beſeitigt werden. Nur in den Kleinſtaaten, die der Gerechtigkeit der Monarchie entbehrten, fanden die Sünden der alt- franzöſiſchen Adelsherrſchaft ein Gegenbild. Dort im ſtiftiſchen Deutſch- land blühte noch die katholiſche Glaubenseinheit und die Hoffart adlicher Domcapitel, in den Reichsſtädten waltete die Trägheit und die Corruption altbürgerlicher Vetterſchaft, in den Territorien der Fürſten, Grafen und Reichsritter die Willkür kleiner Winkeltyrannen; das ganze Daſein dieſer verderbten und verknöcherten Staatsgewalten war ein Hohn auf die Ideen des Jahrhunderts. Faſt allein in dieſen winzigſten Gebieten des Reichs ließ ſich, da aus Frankreich die frohe Kunde der großen Bauernbefreiung kam, eine leiſe Gährung im Volke verſpüren. Es geſchah, daß die Aebtiſſin von

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/134>, abgerufen am 29.03.2024.