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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Ausgang des fridericianischen Zeitalters.
Form und Ausdruck finden muß. Aber die Nation lief Gefahr einer
krankhaften Ueberschätzung der geistigen Güter zu verfallen, da ihr litera-
risches Leben so viel herrlicher war als das politische. Der Patriotismus
ihrer Dichter blieb zu innerlich um unmittelbar auf das Volksgefühl zu
wirken. Der edle weltbürgerliche Zug, der die gesammte Literatur des
achtzehnten Jahrhunderts erfüllte, fand hier nicht wie in Frankreich ein
Gegengewicht an einem durchgebildeten Nationalstolze, er drohte die Deut-
schen ihrem eigenen Staate zu entfremden.

So glänzend hatte Deutschland seit Luthers Tagen nicht mehr in
der europäischen Welt dagestanden wie jetzt, da die ersten Helden und
die ersten Dichter eines reichen Jahrhunderts unserem Volke angehörten.
Und solche Fülle des Lebens nur hundert Jahre nach der Schande
der Schwedennoth! Wer damals die Lande der größeren weltlichen
Reichsstände in Mittel- und Norddeutschland durchreiste, gewann den
Eindruck, als ob hier ein edles Volk in friedlicher Entwicklung einer
schönen Zukunft entgegenreifte. Die humane Bildung der Zeit bethätigte
sich in zahlreichen gemeinnützigen Anstalten; die alte Landplage der Bettler
verschwand von den Landstraßen, die größeren Städte sorgten freigebig für
ihre Armen- und Krankenhäuser; eifrige Paedagogen bemühten sich nach
neu erfundenen Systemen die Jugend wissenschaftlich zu bilden ohne ihr
die Unschuld des Rousseau'schen Naturmenschen zu rauben. Ueberall
rüttelte die aufgeklärte Welt an den trennenden Schranken der alten
ständischen Ordnung; schon fanden sich einzelne Edelleute, die freiwillig
ihren Gutsunterthanen die Freiheit schenkten; die Philosophen vernahmen
mit Befriedigung, daß eines Schinders Sohn in Leipzig Arzt geworden,
ein junger Frankfurter Doctor im adelstolzen Weimar über die Schultern
der eingeborenen Edelleute hinweg zum Ministerposten aufgestiegen war.
Eine heitere Naturschwärmerei verdrängte die alte Angst vor den Unbilden
der freien Luft, die philisterhaften Gewohnheiten des Stubenlebens; die
Gelehrten fingen an sich wieder heimisch zu fühlen auf Gottes Erde. Und
doch war dies Volk im Innersten krank. Unbewegt und unversöhnt stand
die große Lüge des Reichsrechts neben der neuen Bildung und dem neuen
Staate der Deutschen; alle Fäulniß, alle Niedertracht des deutschen
Lebens lag wie ein ungeheurer Scheiterhaufen angesammelt in den
Kleinstaaten des Südens und Westens, dicht neben dem ruhelosen Nach-
barvolke, das den Feuerbrand über die Grenze schleudern sollte. Der
Ruhm des fridericianischen Zeitalters war kaum verblichen, als das
heilige römische Reich schmachvoll zusammenstürzte.


Ausgang des fridericianiſchen Zeitalters.
Form und Ausdruck finden muß. Aber die Nation lief Gefahr einer
krankhaften Ueberſchätzung der geiſtigen Güter zu verfallen, da ihr litera-
riſches Leben ſo viel herrlicher war als das politiſche. Der Patriotismus
ihrer Dichter blieb zu innerlich um unmittelbar auf das Volksgefühl zu
wirken. Der edle weltbürgerliche Zug, der die geſammte Literatur des
achtzehnten Jahrhunderts erfüllte, fand hier nicht wie in Frankreich ein
Gegengewicht an einem durchgebildeten Nationalſtolze, er drohte die Deut-
ſchen ihrem eigenen Staate zu entfremden.

So glänzend hatte Deutſchland ſeit Luthers Tagen nicht mehr in
der europäiſchen Welt dageſtanden wie jetzt, da die erſten Helden und
die erſten Dichter eines reichen Jahrhunderts unſerem Volke angehörten.
Und ſolche Fülle des Lebens nur hundert Jahre nach der Schande
der Schwedennoth! Wer damals die Lande der größeren weltlichen
Reichsſtände in Mittel- und Norddeutſchland durchreiſte, gewann den
Eindruck, als ob hier ein edles Volk in friedlicher Entwicklung einer
ſchönen Zukunft entgegenreifte. Die humane Bildung der Zeit bethätigte
ſich in zahlreichen gemeinnützigen Anſtalten; die alte Landplage der Bettler
verſchwand von den Landſtraßen, die größeren Städte ſorgten freigebig für
ihre Armen- und Krankenhäuſer; eifrige Paedagogen bemühten ſich nach
neu erfundenen Syſtemen die Jugend wiſſenſchaftlich zu bilden ohne ihr
die Unſchuld des Rouſſeau’ſchen Naturmenſchen zu rauben. Ueberall
rüttelte die aufgeklärte Welt an den trennenden Schranken der alten
ſtändiſchen Ordnung; ſchon fanden ſich einzelne Edelleute, die freiwillig
ihren Gutsunterthanen die Freiheit ſchenkten; die Philoſophen vernahmen
mit Befriedigung, daß eines Schinders Sohn in Leipzig Arzt geworden,
ein junger Frankfurter Doctor im adelſtolzen Weimar über die Schultern
der eingeborenen Edelleute hinweg zum Miniſterpoſten aufgeſtiegen war.
Eine heitere Naturſchwärmerei verdrängte die alte Angſt vor den Unbilden
der freien Luft, die philiſterhaften Gewohnheiten des Stubenlebens; die
Gelehrten fingen an ſich wieder heimiſch zu fühlen auf Gottes Erde. Und
doch war dies Volk im Innerſten krank. Unbewegt und unverſöhnt ſtand
die große Lüge des Reichsrechts neben der neuen Bildung und dem neuen
Staate der Deutſchen; alle Fäulniß, alle Niedertracht des deutſchen
Lebens lag wie ein ungeheurer Scheiterhaufen angeſammelt in den
Kleinſtaaten des Südens und Weſtens, dicht neben dem ruheloſen Nach-
barvolke, das den Feuerbrand über die Grenze ſchleudern ſollte. Der
Ruhm des fridericianiſchen Zeitalters war kaum verblichen, als das
heilige römiſche Reich ſchmachvoll zuſammenſtürzte.


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[103/0119] Ausgang des fridericianiſchen Zeitalters. Form und Ausdruck finden muß. Aber die Nation lief Gefahr einer krankhaften Ueberſchätzung der geiſtigen Güter zu verfallen, da ihr litera- riſches Leben ſo viel herrlicher war als das politiſche. Der Patriotismus ihrer Dichter blieb zu innerlich um unmittelbar auf das Volksgefühl zu wirken. Der edle weltbürgerliche Zug, der die geſammte Literatur des achtzehnten Jahrhunderts erfüllte, fand hier nicht wie in Frankreich ein Gegengewicht an einem durchgebildeten Nationalſtolze, er drohte die Deut- ſchen ihrem eigenen Staate zu entfremden. So glänzend hatte Deutſchland ſeit Luthers Tagen nicht mehr in der europäiſchen Welt dageſtanden wie jetzt, da die erſten Helden und die erſten Dichter eines reichen Jahrhunderts unſerem Volke angehörten. Und ſolche Fülle des Lebens nur hundert Jahre nach der Schande der Schwedennoth! Wer damals die Lande der größeren weltlichen Reichsſtände in Mittel- und Norddeutſchland durchreiſte, gewann den Eindruck, als ob hier ein edles Volk in friedlicher Entwicklung einer ſchönen Zukunft entgegenreifte. Die humane Bildung der Zeit bethätigte ſich in zahlreichen gemeinnützigen Anſtalten; die alte Landplage der Bettler verſchwand von den Landſtraßen, die größeren Städte ſorgten freigebig für ihre Armen- und Krankenhäuſer; eifrige Paedagogen bemühten ſich nach neu erfundenen Syſtemen die Jugend wiſſenſchaftlich zu bilden ohne ihr die Unſchuld des Rouſſeau’ſchen Naturmenſchen zu rauben. Ueberall rüttelte die aufgeklärte Welt an den trennenden Schranken der alten ſtändiſchen Ordnung; ſchon fanden ſich einzelne Edelleute, die freiwillig ihren Gutsunterthanen die Freiheit ſchenkten; die Philoſophen vernahmen mit Befriedigung, daß eines Schinders Sohn in Leipzig Arzt geworden, ein junger Frankfurter Doctor im adelſtolzen Weimar über die Schultern der eingeborenen Edelleute hinweg zum Miniſterpoſten aufgeſtiegen war. Eine heitere Naturſchwärmerei verdrängte die alte Angſt vor den Unbilden der freien Luft, die philiſterhaften Gewohnheiten des Stubenlebens; die Gelehrten fingen an ſich wieder heimiſch zu fühlen auf Gottes Erde. Und doch war dies Volk im Innerſten krank. Unbewegt und unverſöhnt ſtand die große Lüge des Reichsrechts neben der neuen Bildung und dem neuen Staate der Deutſchen; alle Fäulniß, alle Niedertracht des deutſchen Lebens lag wie ein ungeheurer Scheiterhaufen angeſammelt in den Kleinſtaaten des Südens und Weſtens, dicht neben dem ruheloſen Nach- barvolke, das den Feuerbrand über die Grenze ſchleudern ſollte. Der Ruhm des fridericianiſchen Zeitalters war kaum verblichen, als das heilige römiſche Reich ſchmachvoll zuſammenſtürzte.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/119>, abgerufen am 29.03.2024.