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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Goethes Anfänge.
an und hieß den Schwager Kronos ins Horn stoßen, "daß der Orkus
vernehme: ein Fürst kommt! -- drunten von ihren Sitzen sich die Ge-
waltigen lüften." Wohl war es Fürstenwerk, wie er schon durch seine
Jugendgedichte der deutschen Lyrik das neue Leben brachte, das Herder
nur ahnte. Alle die holden und zarten, die süßen und sehnsüchtigen
Gefühle des deutschen Herzens, die von Klopstocks pathetischem Oden-
stile übertäubt wurden, gewannen jetzt auf einmal Sprache; die uralten
Lieder vom Röslein auf der Haide entzückten wieder die gebildete Jugend,
seit Goethe sie den Hirten und den Jägern ablauschte, ihre Einfalt adelte
durch den Zauber seiner Kunst; an seinen geselligen Liedern lernten die
Deutschen wieder, so recht aus Herzensgrunde froh zu sein, unbefangen
aufzugehen im himmlischen Behagen des Augenblicks. Dann führte der
Götz die derbe unverstümmelte Kraft und Großheit des alten deutschen
Lebens der Nation wieder vor die Augen; dann fanden Werthers Leiden das
erlösende Wort für den Sturm und Drang schwärmerischer Leidenschaft,
der die Herzen des jungen Geschlechts erfüllte, und es ward auch politisch
bedeutsam, daß einmal doch in diesem zerrissenen Volke ein Dichter einen
unwiderstehlichen, allgemeinen Erfolg errang, wie einst Cervantes, und
Alles was jung war in schöner Begeisterung sich zusammenfand. Als das
fridericianische Zeitalter zu Ende ging, riß der Dichter sich los aus jenen
Herzenskämpfen, denen wir die schönsten Liebesgedichte deutscher Sprache
verdanken, um nach zehn Jahren höfischen Lebens voll Arbeit und Zer-
streuung wieder ein Künstler zu werden; er eilte in "jenes Land, wo für
jeden Empfänglichen die eigenste Bildungsepoche beginnt", dort im Süden
lernte er nordische Leidenschaft und Gemüthstiefe mit antiker Formen-
reinheit zu versöhnen.

So groß er war und so gewaltig sein Einfluß, die Herrschaft über
unsere Dichtung hat er nie beansprucht, und deutsche Freiheit hätte sie
Keinem gestattet. Nach wie vor, auch nachdem jener übermächtige Genius
erstanden war, fluthete die literarische Bewegung in fröhlicher Unge-
bundenheit dahin: hunderte selbständiger Köpfe nach eigenem Willen thätig;
überall in den Dichterbünden und Freimaurerlogen ein begeistertes Suchen
nach reiner Menschlichkeit, nach der Erkenntniß des Ewigen; und überall
in dem bewegten Treiben die frohe Ahnung einer wundervollen Zukunft.
Dies Geschlecht fühlte sich wie emporgehoben über die gemeine Wirklichkeit
der Dinge, wie auf Windesflügeln dahingetragen dem Tage des Lichts, der
Vollendung der Menschheit entgegen. Die gedankenlose Masse freilich
verlangte auch damals, wie zu allen Zeiten, nur nach behaglicher Unter-
haltung; Wielands schalkhafte Munterkeit war ihr bequemer als Klop-
stocks Pathos, wie späterhin Kotzebue populärer wurde als Schiller und
Goethe. Aber in den besten Kreisen der Gesellschaft herrschte ein freudiger
Idealismus; er gab der Bildung des Zeitalters das Gepräge.

Indessen entdeckte die Nation, daß sie neben dem größten Dichter auch

7*

Goethes Anfänge.
an und hieß den Schwager Kronos ins Horn ſtoßen, „daß der Orkus
vernehme: ein Fürſt kommt! — drunten von ihren Sitzen ſich die Ge-
waltigen lüften.“ Wohl war es Fürſtenwerk, wie er ſchon durch ſeine
Jugendgedichte der deutſchen Lyrik das neue Leben brachte, das Herder
nur ahnte. Alle die holden und zarten, die ſüßen und ſehnſüchtigen
Gefühle des deutſchen Herzens, die von Klopſtocks pathetiſchem Oden-
ſtile übertäubt wurden, gewannen jetzt auf einmal Sprache; die uralten
Lieder vom Röslein auf der Haide entzückten wieder die gebildete Jugend,
ſeit Goethe ſie den Hirten und den Jägern ablauſchte, ihre Einfalt adelte
durch den Zauber ſeiner Kunſt; an ſeinen geſelligen Liedern lernten die
Deutſchen wieder, ſo recht aus Herzensgrunde froh zu ſein, unbefangen
aufzugehen im himmliſchen Behagen des Augenblicks. Dann führte der
Götz die derbe unverſtümmelte Kraft und Großheit des alten deutſchen
Lebens der Nation wieder vor die Augen; dann fanden Werthers Leiden das
erlöſende Wort für den Sturm und Drang ſchwärmeriſcher Leidenſchaft,
der die Herzen des jungen Geſchlechts erfüllte, und es ward auch politiſch
bedeutſam, daß einmal doch in dieſem zerriſſenen Volke ein Dichter einen
unwiderſtehlichen, allgemeinen Erfolg errang, wie einſt Cervantes, und
Alles was jung war in ſchöner Begeiſterung ſich zuſammenfand. Als das
fridericianiſche Zeitalter zu Ende ging, riß der Dichter ſich los aus jenen
Herzenskämpfen, denen wir die ſchönſten Liebesgedichte deutſcher Sprache
verdanken, um nach zehn Jahren höfiſchen Lebens voll Arbeit und Zer-
ſtreuung wieder ein Künſtler zu werden; er eilte in „jenes Land, wo für
jeden Empfänglichen die eigenſte Bildungsepoche beginnt“, dort im Süden
lernte er nordiſche Leidenſchaft und Gemüthstiefe mit antiker Formen-
reinheit zu verſöhnen.

So groß er war und ſo gewaltig ſein Einfluß, die Herrſchaft über
unſere Dichtung hat er nie beanſprucht, und deutſche Freiheit hätte ſie
Keinem geſtattet. Nach wie vor, auch nachdem jener übermächtige Genius
erſtanden war, fluthete die literariſche Bewegung in fröhlicher Unge-
bundenheit dahin: hunderte ſelbſtändiger Köpfe nach eigenem Willen thätig;
überall in den Dichterbünden und Freimaurerlogen ein begeiſtertes Suchen
nach reiner Menſchlichkeit, nach der Erkenntniß des Ewigen; und überall
in dem bewegten Treiben die frohe Ahnung einer wundervollen Zukunft.
Dies Geſchlecht fühlte ſich wie emporgehoben über die gemeine Wirklichkeit
der Dinge, wie auf Windesflügeln dahingetragen dem Tage des Lichts, der
Vollendung der Menſchheit entgegen. Die gedankenloſe Maſſe freilich
verlangte auch damals, wie zu allen Zeiten, nur nach behaglicher Unter-
haltung; Wielands ſchalkhafte Munterkeit war ihr bequemer als Klop-
ſtocks Pathos, wie ſpäterhin Kotzebue populärer wurde als Schiller und
Goethe. Aber in den beſten Kreiſen der Geſellſchaft herrſchte ein freudiger
Idealismus; er gab der Bildung des Zeitalters das Gepräge.

Indeſſen entdeckte die Nation, daß ſie neben dem größten Dichter auch

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[99/0115] Goethes Anfänge. an und hieß den Schwager Kronos ins Horn ſtoßen, „daß der Orkus vernehme: ein Fürſt kommt! — drunten von ihren Sitzen ſich die Ge- waltigen lüften.“ Wohl war es Fürſtenwerk, wie er ſchon durch ſeine Jugendgedichte der deutſchen Lyrik das neue Leben brachte, das Herder nur ahnte. Alle die holden und zarten, die ſüßen und ſehnſüchtigen Gefühle des deutſchen Herzens, die von Klopſtocks pathetiſchem Oden- ſtile übertäubt wurden, gewannen jetzt auf einmal Sprache; die uralten Lieder vom Röslein auf der Haide entzückten wieder die gebildete Jugend, ſeit Goethe ſie den Hirten und den Jägern ablauſchte, ihre Einfalt adelte durch den Zauber ſeiner Kunſt; an ſeinen geſelligen Liedern lernten die Deutſchen wieder, ſo recht aus Herzensgrunde froh zu ſein, unbefangen aufzugehen im himmliſchen Behagen des Augenblicks. Dann führte der Götz die derbe unverſtümmelte Kraft und Großheit des alten deutſchen Lebens der Nation wieder vor die Augen; dann fanden Werthers Leiden das erlöſende Wort für den Sturm und Drang ſchwärmeriſcher Leidenſchaft, der die Herzen des jungen Geſchlechts erfüllte, und es ward auch politiſch bedeutſam, daß einmal doch in dieſem zerriſſenen Volke ein Dichter einen unwiderſtehlichen, allgemeinen Erfolg errang, wie einſt Cervantes, und Alles was jung war in ſchöner Begeiſterung ſich zuſammenfand. Als das fridericianiſche Zeitalter zu Ende ging, riß der Dichter ſich los aus jenen Herzenskämpfen, denen wir die ſchönſten Liebesgedichte deutſcher Sprache verdanken, um nach zehn Jahren höfiſchen Lebens voll Arbeit und Zer- ſtreuung wieder ein Künſtler zu werden; er eilte in „jenes Land, wo für jeden Empfänglichen die eigenſte Bildungsepoche beginnt“, dort im Süden lernte er nordiſche Leidenſchaft und Gemüthstiefe mit antiker Formen- reinheit zu verſöhnen. So groß er war und ſo gewaltig ſein Einfluß, die Herrſchaft über unſere Dichtung hat er nie beanſprucht, und deutſche Freiheit hätte ſie Keinem geſtattet. Nach wie vor, auch nachdem jener übermächtige Genius erſtanden war, fluthete die literariſche Bewegung in fröhlicher Unge- bundenheit dahin: hunderte ſelbſtändiger Köpfe nach eigenem Willen thätig; überall in den Dichterbünden und Freimaurerlogen ein begeiſtertes Suchen nach reiner Menſchlichkeit, nach der Erkenntniß des Ewigen; und überall in dem bewegten Treiben die frohe Ahnung einer wundervollen Zukunft. Dies Geſchlecht fühlte ſich wie emporgehoben über die gemeine Wirklichkeit der Dinge, wie auf Windesflügeln dahingetragen dem Tage des Lichts, der Vollendung der Menſchheit entgegen. Die gedankenloſe Maſſe freilich verlangte auch damals, wie zu allen Zeiten, nur nach behaglicher Unter- haltung; Wielands ſchalkhafte Munterkeit war ihr bequemer als Klop- ſtocks Pathos, wie ſpäterhin Kotzebue populärer wurde als Schiller und Goethe. Aber in den beſten Kreiſen der Geſellſchaft herrſchte ein freudiger Idealismus; er gab der Bildung des Zeitalters das Gepräge. Indeſſen entdeckte die Nation, daß ſie neben dem größten Dichter auch 7*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/115>, abgerufen am 25.04.2024.