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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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die politische Oekonomie, welche mit der abstracten Mechanik
verglichen werden kann. Ihre Anwendungen gehen auf die
Bedingungen der socialen Wirklichkeit ein und erweisen sich
um so fruchtbarer für Verständniss und Behandlung derselben,
je mehr ent- und verwickelt die Geschäfte und Verhältnisse
der Menschen durch Cultur geworden sind. Dennoch hat fast
alle bisherige "organische" und "historische" Ansicht sich beiden
verneinend entgegengestellt. Die gegenwärtige Theorie versucht sie
in sich aufzunehmen und von sich abhängig zu erhalten. Aber
in dieser wie in jeder anderen Hinsicht hat sie nur in Skizzen
sich anzudeuten vermocht. Die Complicationen des Gegen-
standes sind überwältigend. Gegebene schematische Gedanken-
bildungen müssen nicht so sehr darauf angesehen werden,
wie sehr sie richtig, als wie sehr sie brauchbar sind. Dies
wird aber nur zukünftige Ausführung bewähren können, wozu
ich mir Kraft und Ermuthigung wünsche. Für missverständ-
liche Auslegungen, sich klug dünkende Nutzanwendungen halte
ich mich nicht verantwortlich. Leute, die an begriffliches
Denken nicht gewöhnt sind, sollen sich des Urtheiles in solchen
Dingen enthalten. Aber diese Enthaltsamkeit darf fast noch
weniger als irgendwelche andere im gegenwärtigen Zeitalter
erwartet werden.

Ich könnte leicht ein besonderes Capitel schreiben über
die Einflüsse, denen ich die Förderung meiner Gedanken
schuldig bin. In der eigentlichen Socialwissenschaft sind die-
selben mannigfach. Einige der bedeutendsten Namen treten
in gelegentlichen Citaten auf. Erwähnen will ich aber auch,
dass die grossen sociologischen Werke A. Comte's und Her-
bert Spencer
's mich oft auf meinen Wegen begleitet haben, von
welchen jenes mehr in den praehistorischen Grundlagen, dieses
in der historischen Ansicht seine Schwäche hat, welche aber
beide auf zu einseitige Weise die Entwicklung der Menschheit
als durch ihren intellectuellen Fortschritt unmittelbar bedingt
darstellen (wenn auch Comte in seinem späteren Werke die
tiefere Betrachtung gewonnen hat). Erwähnen will ich ferner,
dass ich die energischen Bemühungen der Herren A. Schaeffle
und A. Wagner und ihre bedeutenden Bücher mit Eifer ver-
folgt habe und ferner verfolge, welche jedoch beide, soviel ich

die politische Oekonomie, welche mit der abstracten Mechanik
verglichen werden kann. Ihre Anwendungen gehen auf die
Bedingungen der socialen Wirklichkeit ein und erweisen sich
um so fruchtbarer für Verständniss und Behandlung derselben,
je mehr ent- und verwickelt die Geschäfte und Verhältnisse
der Menschen durch Cultur geworden sind. Dennoch hat fast
alle bisherige «organische» und «historische» Ansicht sich beiden
verneinend entgegengestellt. Die gegenwärtige Theorie versucht sie
in sich aufzunehmen und von sich abhängig zu erhalten. Aber
in dieser wie in jeder anderen Hinsicht hat sie nur in Skizzen
sich anzudeuten vermocht. Die Complicationen des Gegen-
standes sind überwältigend. Gegebene schematische Gedanken-
bildungen müssen nicht so sehr darauf angesehen werden,
wie sehr sie richtig, als wie sehr sie brauchbar sind. Dies
wird aber nur zukünftige Ausführung bewähren können, wozu
ich mir Kraft und Ermuthigung wünsche. Für missverständ-
liche Auslegungen, sich klug dünkende Nutzanwendungen halte
ich mich nicht verantwortlich. Leute, die an begriffliches
Denken nicht gewöhnt sind, sollen sich des Urtheiles in solchen
Dingen enthalten. Aber diese Enthaltsamkeit darf fast noch
weniger als irgendwelche andere im gegenwärtigen Zeitalter
erwartet werden.

Ich könnte leicht ein besonderes Capitel schreiben über
die Einflüsse, denen ich die Förderung meiner Gedanken
schuldig bin. In der eigentlichen Socialwissenschaft sind die-
selben mannigfach. Einige der bedeutendsten Namen treten
in gelegentlichen Citaten auf. Erwähnen will ich aber auch,
dass die grossen sociologischen Werke A. Comte’s und Her-
bert Spencer
’s mich oft auf meinen Wegen begleitet haben, von
welchen jenes mehr in den praehistorischen Grundlagen, dieses
in der historischen Ansicht seine Schwäche hat, welche aber
beide auf zu einseitige Weise die Entwicklung der Menschheit
als durch ihren intellectuellen Fortschritt unmittelbar bedingt
darstellen (wenn auch Comte in seinem späteren Werke die
tiefere Betrachtung gewonnen hat). Erwähnen will ich ferner,
dass ich die energischen Bemühungen der Herren A. Schaeffle
und A. Wagner und ihre bedeutenden Bücher mit Eifer ver-
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[XNVII[XXVII]/0033] die politische Oekonomie, welche mit der abstracten Mechanik verglichen werden kann. Ihre Anwendungen gehen auf die Bedingungen der socialen Wirklichkeit ein und erweisen sich um so fruchtbarer für Verständniss und Behandlung derselben, je mehr ent- und verwickelt die Geschäfte und Verhältnisse der Menschen durch Cultur geworden sind. Dennoch hat fast alle bisherige «organische» und «historische» Ansicht sich beiden verneinend entgegengestellt. Die gegenwärtige Theorie versucht sie in sich aufzunehmen und von sich abhängig zu erhalten. Aber in dieser wie in jeder anderen Hinsicht hat sie nur in Skizzen sich anzudeuten vermocht. Die Complicationen des Gegen- standes sind überwältigend. Gegebene schematische Gedanken- bildungen müssen nicht so sehr darauf angesehen werden, wie sehr sie richtig, als wie sehr sie brauchbar sind. Dies wird aber nur zukünftige Ausführung bewähren können, wozu ich mir Kraft und Ermuthigung wünsche. Für missverständ- liche Auslegungen, sich klug dünkende Nutzanwendungen halte ich mich nicht verantwortlich. Leute, die an begriffliches Denken nicht gewöhnt sind, sollen sich des Urtheiles in solchen Dingen enthalten. Aber diese Enthaltsamkeit darf fast noch weniger als irgendwelche andere im gegenwärtigen Zeitalter erwartet werden. Ich könnte leicht ein besonderes Capitel schreiben über die Einflüsse, denen ich die Förderung meiner Gedanken schuldig bin. In der eigentlichen Socialwissenschaft sind die- selben mannigfach. Einige der bedeutendsten Namen treten in gelegentlichen Citaten auf. Erwähnen will ich aber auch, dass die grossen sociologischen Werke A. Comte’s und Her- bert Spencer’s mich oft auf meinen Wegen begleitet haben, von welchen jenes mehr in den praehistorischen Grundlagen, dieses in der historischen Ansicht seine Schwäche hat, welche aber beide auf zu einseitige Weise die Entwicklung der Menschheit als durch ihren intellectuellen Fortschritt unmittelbar bedingt darstellen (wenn auch Comte in seinem späteren Werke die tiefere Betrachtung gewonnen hat). Erwähnen will ich ferner, dass ich die energischen Bemühungen der Herren A. Schaeffle und A. Wagner und ihre bedeutenden Bücher mit Eifer ver- folgt habe und ferner verfolge, welche jedoch beide, soviel ich

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. XNVII[XXVII]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/33>, abgerufen am 23.04.2024.