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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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welche (um das bedeutendste Beispiel zu geben) dem Anta-
gonismus der Lehren des individualistischen und des
socialistischen Typus für die Erkenntniss und Theorie
der wirklichen Thatsachen des gegenwärtigen Productions- und
Handelswesens beigelegt wird, ähnlich als ob die Mediciner
den Widerspruch alloiopathischer und homöopathischer Heil-
methode in die Physiologie übertragen wollten. Es gilt viel-
mehr, von dem Qualme aller solcher Ueberlieferungen sich zu
befreien; es gilt, sich völlig ausserhalb der Dinge hinzustellen
und wie mit Teleskop und Mikroskop Körper und Bewegungen
zu beobachten, welche innerhalb der Cultur so weit von ein-
ander verschieden sind, auf der einen Seite nur ganz im All-
gemeinen und Grossen, auf der anderen ganz im Kleinen und
Besonderen erforschbar, wie in Natura rerum die Bahnen der
Himmelskörper und hingegen Theile und Lebensprocesse des
elementaren Organismus. Für die universale Betrachtung ist
die Geschichte selber nichts als ein Stück der Schicksale
eines Planeten und bildet einen Abschnitt in der durch zu-
nehmende Abkühlung möglich gewordenen Entwicklung des
organischen Lebens. Für die engste Betrachtung ist sie die
Umgebung und Bedingung meines täglichen Lebens, Alles, was
als der Menschen Thun und Treiben vor meinen Augen und
Ohren sich vollzieht. Diese Betrachtungen versucht die empi-
rische und dialektische Philosophie in einen einzigen Brenn-
punkt zu bringen. Die Nothwendigkeiten des Lebens, die
Leidenschaften und Thätigkeiten der menschlichen Natur, sind
in ihrem Grundbestande dort und hier dieselben. Auf ihre
Allgemeinheit beziehen sich auch, aber zunächst ohne alle
zeitliche und örtliche Bestimmung, die rationalen Disci-
plinen, welche von der natürlichen Voraussetzung durchaus ge-
trennter und je für sich auf vernünftige Weise strebender
(willkürlicher) Individuen aus theils die ideellen Verhältnisse
und Verbindungen ihrer Willen, theils die Veränderungen ge-
gebener Vermögens-Zustände durch solche Berührungen im
Verkehr, zu bestimmen unternommen haben. Jene, den for-
malen
Consequenzen solcher Beziehungen zugewandt, ist die
reine Rechtswissenschaft (das Naturrecht), welche mit der Geo-
metrie, diese, ihrer materiellen Beschaffenheit sich widmend,

welche (um das bedeutendste Beispiel zu geben) dem Anta-
gonismus der Lehren des individualistischen und des
socialistischen Typus für die Erkenntniss und Theorie
der wirklichen Thatsachen des gegenwärtigen Productions- und
Handelswesens beigelegt wird, ähnlich als ob die Mediciner
den Widerspruch alloiopathischer und homöopathischer Heil-
methode in die Physiologie übertragen wollten. Es gilt viel-
mehr, von dem Qualme aller solcher Ueberlieferungen sich zu
befreien; es gilt, sich völlig ausserhalb der Dinge hinzustellen
und wie mit Teleskop und Mikroskop Körper und Bewegungen
zu beobachten, welche innerhalb der Cultur so weit von ein-
ander verschieden sind, auf der einen Seite nur ganz im All-
gemeinen und Grossen, auf der anderen ganz im Kleinen und
Besonderen erforschbar, wie in Natura rerum die Bahnen der
Himmelskörper und hingegen Theile und Lebensprocesse des
elementaren Organismus. Für die universale Betrachtung ist
die Geschichte selber nichts als ein Stück der Schicksale
eines Planeten und bildet einen Abschnitt in der durch zu-
nehmende Abkühlung möglich gewordenen Entwicklung des
organischen Lebens. Für die engste Betrachtung ist sie die
Umgebung und Bedingung meines täglichen Lebens, Alles, was
als der Menschen Thun und Treiben vor meinen Augen und
Ohren sich vollzieht. Diese Betrachtungen versucht die empi-
rische und dialektische Philosophie in einen einzigen Brenn-
punkt zu bringen. Die Nothwendigkeiten des Lebens, die
Leidenschaften und Thätigkeiten der menschlichen Natur, sind
in ihrem Grundbestande dort und hier dieselben. Auf ihre
Allgemeinheit beziehen sich auch, aber zunächst ohne alle
zeitliche und örtliche Bestimmung, die rationalen Disci-
plinen, welche von der natürlichen Voraussetzung durchaus ge-
trennter und je für sich auf vernünftige Weise strebender
(willkürlicher) Individuen aus theils die ideellen Verhältnisse
und Verbindungen ihrer Willen, theils die Veränderungen ge-
gebener Vermögens-Zustände durch solche Berührungen im
Verkehr, zu bestimmen unternommen haben. Jene, den for-
malen
Consequenzen solcher Beziehungen zugewandt, ist die
reine Rechtswissenschaft (das Naturrecht), welche mit der Geo-
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[XXVI/0032] welche (um das bedeutendste Beispiel zu geben) dem Anta- gonismus der Lehren des individualistischen und des socialistischen Typus für die Erkenntniss und Theorie der wirklichen Thatsachen des gegenwärtigen Productions- und Handelswesens beigelegt wird, ähnlich als ob die Mediciner den Widerspruch alloiopathischer und homöopathischer Heil- methode in die Physiologie übertragen wollten. Es gilt viel- mehr, von dem Qualme aller solcher Ueberlieferungen sich zu befreien; es gilt, sich völlig ausserhalb der Dinge hinzustellen und wie mit Teleskop und Mikroskop Körper und Bewegungen zu beobachten, welche innerhalb der Cultur so weit von ein- ander verschieden sind, auf der einen Seite nur ganz im All- gemeinen und Grossen, auf der anderen ganz im Kleinen und Besonderen erforschbar, wie in Natura rerum die Bahnen der Himmelskörper und hingegen Theile und Lebensprocesse des elementaren Organismus. Für die universale Betrachtung ist die Geschichte selber nichts als ein Stück der Schicksale eines Planeten und bildet einen Abschnitt in der durch zu- nehmende Abkühlung möglich gewordenen Entwicklung des organischen Lebens. Für die engste Betrachtung ist sie die Umgebung und Bedingung meines täglichen Lebens, Alles, was als der Menschen Thun und Treiben vor meinen Augen und Ohren sich vollzieht. Diese Betrachtungen versucht die empi- rische und dialektische Philosophie in einen einzigen Brenn- punkt zu bringen. Die Nothwendigkeiten des Lebens, die Leidenschaften und Thätigkeiten der menschlichen Natur, sind in ihrem Grundbestande dort und hier dieselben. Auf ihre Allgemeinheit beziehen sich auch, aber zunächst ohne alle zeitliche und örtliche Bestimmung, die rationalen Disci- plinen, welche von der natürlichen Voraussetzung durchaus ge- trennter und je für sich auf vernünftige Weise strebender (willkürlicher) Individuen aus theils die ideellen Verhältnisse und Verbindungen ihrer Willen, theils die Veränderungen ge- gebener Vermögens-Zustände durch solche Berührungen im Verkehr, zu bestimmen unternommen haben. Jene, den for- malen Consequenzen solcher Beziehungen zugewandt, ist die reine Rechtswissenschaft (das Naturrecht), welche mit der Geo- metrie, diese, ihrer materiellen Beschaffenheit sich widmend,

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. XXVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/32>, abgerufen am 29.03.2024.