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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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entgegengesetzten Ergebnissen. Den Empirismus in Bezug auf
Wahrnehmung hatte Hume noch vorausgesetzt, in dem Sinne,
als ob Erkenntniss die Wirkung von objectiven Qualitäten und
Zuständen der Dinge auf eine carte blanche der menschlichen
Seele sei; nach Kant ist sie, wenn auch den Dingen ihr
Dasein und Mitwirkung gelassen wird, wesentlich Product
von Thätigkeiten des Subjects, wie das Denken selber. Die
Uebereinstimmung in Bezug auf Wahrheit -- so mögen wir
in seinem Sinne erklären -- wird bedingt durch die gleiche
Beschaffenheit der Erkenntnissgeräthe, welche, wo es über An-
schauungsformen und Verstandeskategorieen hinausgeht, nichts
als Complexe von Ideen sind, insbesondere die Associationen
von Wahrnehmungen und Vorstellungen mit Namen und Ur-
theilen, so lange als es um Auffassung von Thatsachen sich
handelt. Hingegen, wenn die Ursachen gegebener Effecte
aufgesucht werden, so müssen schon bestimmte Begriffe über
Beschaffenheit der Agentien (Wesen, Dinge oder Kräfte) und
über ihre Art zu wirken vorausgesetzt werden, um aus den
Möglichkeiten die Nothwendigkeiten oder Gewissheiten auszu-
lesen. Diese aber sind nach dem durchgeführten (Hume'schen)
Empirismus nicht anders erreichbar, als durch ein erworbenes
Wissen von regelmässigen zeitlichen Folgen, so dass in der
That alle Zusammenhänge von gleicher Art zuerst lose, end-
lich durch häufige Wiederholung als Gewohnheiten sich be-
festigen und als nothwendige, d. i. als causale, gedeutet werden.
Die Causalität wird hierdurch aus den Dingen herausge-
nommen und in den Menschen versetzt, nicht anders als es
durch Kant geschieht, wenn er sie als Kategorie des Verstan-
des behauptet. Kant aber verwirft die Erklärung, welche
Hume unternommen hatte, aus der blossen individuellen Er-
fahrung. Die Kantische Fassung, in welcher sie aller Er-
fahrung vorausgeht, zeigt in Wahrheit den Weg zu einer
tieferen Erklärung. Denn das psychologische Gesetz, dessen
Entdeckung bei Hume vorliegt, bedarf allerdings der Ergän-
zung und folglich sogar seiner eigenen Begründung durch die
Idee des aus seinem Keime werdenden, mithin mit bestimmten
Anlagen als Kräften und Tendenzen ausgestatteten Geistes.
Das von den "consecutions des betes" das menschliche Denken
sich unterscheidet, kann (in physiologischer Bestimmung) allein

entgegengesetzten Ergebnissen. Den Empirismus in Bezug auf
Wahrnehmung hatte Hume noch vorausgesetzt, in dem Sinne,
als ob Erkenntniss die Wirkung von objectiven Qualitäten und
Zuständen der Dinge auf eine carte blanche der menschlichen
Seele sei; nach Kant ist sie, wenn auch den Dingen ihr
Dasein und Mitwirkung gelassen wird, wesentlich Product
von Thätigkeiten des Subjects, wie das Denken selber. Die
Uebereinstimmung in Bezug auf Wahrheit — so mögen wir
in seinem Sinne erklären — wird bedingt durch die gleiche
Beschaffenheit der Erkenntnissgeräthe, welche, wo es über An-
schauungsformen und Verstandeskategorieen hinausgeht, nichts
als Complexe von Ideen sind, insbesondere die Associationen
von Wahrnehmungen und Vorstellungen mit Namen und Ur-
theilen, so lange als es um Auffassung von Thatsachen sich
handelt. Hingegen, wenn die Ursachen gegebener Effecte
aufgesucht werden, so müssen schon bestimmte Begriffe über
Beschaffenheit der Agentien (Wesen, Dinge oder Kräfte) und
über ihre Art zu wirken vorausgesetzt werden, um aus den
Möglichkeiten die Nothwendigkeiten oder Gewissheiten auszu-
lesen. Diese aber sind nach dem durchgeführten (Hume’schen)
Empirismus nicht anders erreichbar, als durch ein erworbenes
Wissen von regelmässigen zeitlichen Folgen, so dass in der
That alle Zusammenhänge von gleicher Art zuerst lose, end-
lich durch häufige Wiederholung als Gewohnheiten sich be-
festigen und als nothwendige, d. i. als causale, gedeutet werden.
Die Causalität wird hierdurch aus den Dingen herausge-
nommen und in den Menschen versetzt, nicht anders als es
durch Kant geschieht, wenn er sie als Kategorie des Verstan-
des behauptet. Kant aber verwirft die Erklärung, welche
Hume unternommen hatte, aus der blossen individuellen Er-
fahrung. Die Kantische Fassung, in welcher sie aller Er-
fahrung vorausgeht, zeigt in Wahrheit den Weg zu einer
tieferen Erklärung. Denn das psychologische Gesetz, dessen
Entdeckung bei Hume vorliegt, bedarf allerdings der Ergän-
zung und folglich sogar seiner eigenen Begründung durch die
Idee des aus seinem Keime werdenden, mithin mit bestimmten
Anlagen als Kräften und Tendenzen ausgestatteten Geistes.
Das von den »consécutions des bétes« das menschliche Denken
sich unterscheidet, kann (in physiologischer Bestimmung) allein

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[XVIII/0024] entgegengesetzten Ergebnissen. Den Empirismus in Bezug auf Wahrnehmung hatte Hume noch vorausgesetzt, in dem Sinne, als ob Erkenntniss die Wirkung von objectiven Qualitäten und Zuständen der Dinge auf eine carte blanche der menschlichen Seele sei; nach Kant ist sie, wenn auch den Dingen ihr Dasein und Mitwirkung gelassen wird, wesentlich Product von Thätigkeiten des Subjects, wie das Denken selber. Die Uebereinstimmung in Bezug auf Wahrheit — so mögen wir in seinem Sinne erklären — wird bedingt durch die gleiche Beschaffenheit der Erkenntnissgeräthe, welche, wo es über An- schauungsformen und Verstandeskategorieen hinausgeht, nichts als Complexe von Ideen sind, insbesondere die Associationen von Wahrnehmungen und Vorstellungen mit Namen und Ur- theilen, so lange als es um Auffassung von Thatsachen sich handelt. Hingegen, wenn die Ursachen gegebener Effecte aufgesucht werden, so müssen schon bestimmte Begriffe über Beschaffenheit der Agentien (Wesen, Dinge oder Kräfte) und über ihre Art zu wirken vorausgesetzt werden, um aus den Möglichkeiten die Nothwendigkeiten oder Gewissheiten auszu- lesen. Diese aber sind nach dem durchgeführten (Hume’schen) Empirismus nicht anders erreichbar, als durch ein erworbenes Wissen von regelmässigen zeitlichen Folgen, so dass in der That alle Zusammenhänge von gleicher Art zuerst lose, end- lich durch häufige Wiederholung als Gewohnheiten sich be- festigen und als nothwendige, d. i. als causale, gedeutet werden. Die Causalität wird hierdurch aus den Dingen herausge- nommen und in den Menschen versetzt, nicht anders als es durch Kant geschieht, wenn er sie als Kategorie des Verstan- des behauptet. Kant aber verwirft die Erklärung, welche Hume unternommen hatte, aus der blossen individuellen Er- fahrung. Die Kantische Fassung, in welcher sie aller Er- fahrung vorausgeht, zeigt in Wahrheit den Weg zu einer tieferen Erklärung. Denn das psychologische Gesetz, dessen Entdeckung bei Hume vorliegt, bedarf allerdings der Ergän- zung und folglich sogar seiner eigenen Begründung durch die Idee des aus seinem Keime werdenden, mithin mit bestimmten Anlagen als Kräften und Tendenzen ausgestatteten Geistes. Das von den »consécutions des bétes« das menschliche Denken sich unterscheidet, kann (in physiologischer Bestimmung) allein

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. XVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/24>, abgerufen am 20.04.2024.