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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
zu, und muß es aus der Probe nachher erlernen, daß
seine Schultern zu schwach sind? Wenn ein Kranker sich
für stärker hält, als ers ist, so entstehet der Jrrthum
aus der nämlichen Quelle.

Jn solchen Fällen, wo zu dem gesammten vollen
Vermögen noch gewisse Zustände in dem Körper erfo-
dert werden, noch mehr, wo es auch außer demselben
auf gewisse Einrichtungen ankommt, da ist es noch
leichter möglich, daß dieses äußere Kennzeichen des Ver-
mögens, von dem, was in unserm Jnnern das Vermö-
gen selbst ausmacht, und was näher und unmittelbarer
in uns gefühlet wird, getrennet seyn kann, ob es sonsten
gleich in den gewöhnlichen Fällen damit verbunden ist.
Wer es nicht weiß, daß die Thüre des Zimmers durch
einen Zufall oder mit Vorsatz zugeschlossen ist, glaubet,
sie lasse sich wie gewöhnlich eröffnen, und schreibet sich
das Vermögen zu, herausgehen zu können, so wie er
wirklich das Vermögen besitzet, zu ihr hinzugehen, und
die Hand anzulegen. Der Reuter, der in der Meinung
ist, er könne sein Pferd vom Wege ablenken, wenn er
wolle, betrüget sich, wenn jemand ihm den Zügel zer-
schnitten, und die getrennten Enden durch ein wenig
Pech wiederum zusammengeklebet hat, um ihm den Be-
trug zu verbergen. Wir fühlen es nicht allemal, wenn
wir sitzen, daß die Nerven in den Lenden gedruckt sind,
und daß der Fuß schlafe, aber wir fühlen das übrige,
was zu einer freyen Bewegungskraft derselbigen nach
unsern sonstigen Erfahrungen erfodert wird, und schrei-
ben uns also das Vermögen zu, von unserm Sitze weg-
gehen zu können.

Es ist also klar, daß die falschen Urtheile aus innern
Empfindungen auf die nämliche Weise und aus der ähn-
lichen Ursache entstehen, wie die Fallazen des Gesichts;
aber zugleich ist es auch klar, daß es ähnliche Mittel bey
jenen giebt, wie bey diesen, den Erschleichungen zuvor-

zukommen,

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
zu, und muß es aus der Probe nachher erlernen, daß
ſeine Schultern zu ſchwach ſind? Wenn ein Kranker ſich
fuͤr ſtaͤrker haͤlt, als ers iſt, ſo entſtehet der Jrrthum
aus der naͤmlichen Quelle.

Jn ſolchen Faͤllen, wo zu dem geſammten vollen
Vermoͤgen noch gewiſſe Zuſtaͤnde in dem Koͤrper erfo-
dert werden, noch mehr, wo es auch außer demſelben
auf gewiſſe Einrichtungen ankommt, da iſt es noch
leichter moͤglich, daß dieſes aͤußere Kennzeichen des Ver-
moͤgens, von dem, was in unſerm Jnnern das Vermoͤ-
gen ſelbſt ausmacht, und was naͤher und unmittelbarer
in uns gefuͤhlet wird, getrennet ſeyn kann, ob es ſonſten
gleich in den gewoͤhnlichen Faͤllen damit verbunden iſt.
Wer es nicht weiß, daß die Thuͤre des Zimmers durch
einen Zufall oder mit Vorſatz zugeſchloſſen iſt, glaubet,
ſie laſſe ſich wie gewoͤhnlich eroͤffnen, und ſchreibet ſich
das Vermoͤgen zu, herausgehen zu koͤnnen, ſo wie er
wirklich das Vermoͤgen beſitzet, zu ihr hinzugehen, und
die Hand anzulegen. Der Reuter, der in der Meinung
iſt, er koͤnne ſein Pferd vom Wege ablenken, wenn er
wolle, betruͤget ſich, wenn jemand ihm den Zuͤgel zer-
ſchnitten, und die getrennten Enden durch ein wenig
Pech wiederum zuſammengeklebet hat, um ihm den Be-
trug zu verbergen. Wir fuͤhlen es nicht allemal, wenn
wir ſitzen, daß die Nerven in den Lenden gedruckt ſind,
und daß der Fuß ſchlafe, aber wir fuͤhlen das uͤbrige,
was zu einer freyen Bewegungskraft derſelbigen nach
unſern ſonſtigen Erfahrungen erfodert wird, und ſchrei-
ben uns alſo das Vermoͤgen zu, von unſerm Sitze weg-
gehen zu koͤnnen.

Es iſt alſo klar, daß die falſchen Urtheile aus innern
Empfindungen auf die naͤmliche Weiſe und aus der aͤhn-
lichen Urſache entſtehen, wie die Fallazen des Geſichts;
aber zugleich iſt es auch klar, daß es aͤhnliche Mittel bey
jenen giebt, wie bey dieſen, den Erſchleichungen zuvor-

zukommen,
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[14/0044] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit zu, und muß es aus der Probe nachher erlernen, daß ſeine Schultern zu ſchwach ſind? Wenn ein Kranker ſich fuͤr ſtaͤrker haͤlt, als ers iſt, ſo entſtehet der Jrrthum aus der naͤmlichen Quelle. Jn ſolchen Faͤllen, wo zu dem geſammten vollen Vermoͤgen noch gewiſſe Zuſtaͤnde in dem Koͤrper erfo- dert werden, noch mehr, wo es auch außer demſelben auf gewiſſe Einrichtungen ankommt, da iſt es noch leichter moͤglich, daß dieſes aͤußere Kennzeichen des Ver- moͤgens, von dem, was in unſerm Jnnern das Vermoͤ- gen ſelbſt ausmacht, und was naͤher und unmittelbarer in uns gefuͤhlet wird, getrennet ſeyn kann, ob es ſonſten gleich in den gewoͤhnlichen Faͤllen damit verbunden iſt. Wer es nicht weiß, daß die Thuͤre des Zimmers durch einen Zufall oder mit Vorſatz zugeſchloſſen iſt, glaubet, ſie laſſe ſich wie gewoͤhnlich eroͤffnen, und ſchreibet ſich das Vermoͤgen zu, herausgehen zu koͤnnen, ſo wie er wirklich das Vermoͤgen beſitzet, zu ihr hinzugehen, und die Hand anzulegen. Der Reuter, der in der Meinung iſt, er koͤnne ſein Pferd vom Wege ablenken, wenn er wolle, betruͤget ſich, wenn jemand ihm den Zuͤgel zer- ſchnitten, und die getrennten Enden durch ein wenig Pech wiederum zuſammengeklebet hat, um ihm den Be- trug zu verbergen. Wir fuͤhlen es nicht allemal, wenn wir ſitzen, daß die Nerven in den Lenden gedruckt ſind, und daß der Fuß ſchlafe, aber wir fuͤhlen das uͤbrige, was zu einer freyen Bewegungskraft derſelbigen nach unſern ſonſtigen Erfahrungen erfodert wird, und ſchrei- ben uns alſo das Vermoͤgen zu, von unſerm Sitze weg- gehen zu koͤnnen. Es iſt alſo klar, daß die falſchen Urtheile aus innern Empfindungen auf die naͤmliche Weiſe und aus der aͤhn- lichen Urſache entſtehen, wie die Fallazen des Geſichts; aber zugleich iſt es auch klar, daß es aͤhnliche Mittel bey jenen giebt, wie bey dieſen, den Erſchleichungen zuvor- zukommen,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/44>, abgerufen am 18.04.2024.