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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Freyheit.
pfindung verleiten lassen, zu glauben, es sey ein reelles
Vermögen in uns vorhanden, das nicht da war, sollten
wir deswegen nicht in andern Fällen es wissen können,
daß wir uns nicht irren, und uns von dem Daseyn ei-
nes solchen Vermögens so vergewissern können, als von
dem Daseyn der Körperwelt außer uns? Ob wir denn
nun aber nicht nachher diese Empfindungskenntniß wie-
der aufgeben, und die subjektivische Wirklichkeit für ei-
nen bloßen Schein erklären müssen, weil die Vernunft
uns lehre, daß das objektivische Seyn der Sache etwas
ungereimtes sey, das ist, wie ich schon erinnert habe, ei-
ne spekulativische Frage, die uns nicht stören muß, wo
wir nur vorläufig untersuchen, ob die Beobachtung uns
nicht die Wirklichkeit einer Sache lehre, oder uns sol-
che nur aufbinde?

3.

Es ist nichts mehr nöthig, als eine genaue Beob-
achtung unserer selbst in einigen einzelnen Fällen, in de-
nen wir uns gewiß halten, daß wir frey handeln, um
den Gang der Denkkraft zu sehen, den sie nimmt, wenn
sie aus dem Gefühle zu dem Gedanken kommt, sie kön-
ne anders handeln, als sie es wirklich thut. Dann of-
fenbaren sich auch zugleich die Ursachen, die ihre Fehl-
tritte hierinn veranlassen. Jch will es noch bis weiter
hin unerörtert lassen, was es mit diesem Vermögen zum
Gegentheil eigentlich für eine Beschaffenheit habe. Ge-
nug, es ist etwas positives in dem seiner selbst mächti-
gen Wesen; eine gewisse absolute reelle Beschaffenheit
desselben, die mit derjenigen Kraft, welche in Thätigkeit
gesetzet ist und die freye Handlung bewirket, zugleich
vorhanden ist. Wir wissen, was ein Vermögen zu den-
ken, und ein Vermögen das Nachdenken zu unterbre-
chen; ein Vermögen uns zu entschließen, und ein Ver-
mögen unsern Entschluß zu ändern; ein Vermögen, die
Hände und Füße zu bewegen, und ein anders, sie wieder

zur

und Freyheit.
pfindung verleiten laſſen, zu glauben, es ſey ein reelles
Vermoͤgen in uns vorhanden, das nicht da war, ſollten
wir deswegen nicht in andern Faͤllen es wiſſen koͤnnen,
daß wir uns nicht irren, und uns von dem Daſeyn ei-
nes ſolchen Vermoͤgens ſo vergewiſſern koͤnnen, als von
dem Daſeyn der Koͤrperwelt außer uns? Ob wir denn
nun aber nicht nachher dieſe Empfindungskenntniß wie-
der aufgeben, und die ſubjektiviſche Wirklichkeit fuͤr ei-
nen bloßen Schein erklaͤren muͤſſen, weil die Vernunft
uns lehre, daß das objektiviſche Seyn der Sache etwas
ungereimtes ſey, das iſt, wie ich ſchon erinnert habe, ei-
ne ſpekulativiſche Frage, die uns nicht ſtoͤren muß, wo
wir nur vorlaͤufig unterſuchen, ob die Beobachtung uns
nicht die Wirklichkeit einer Sache lehre, oder uns ſol-
che nur aufbinde?

3.

Es iſt nichts mehr noͤthig, als eine genaue Beob-
achtung unſerer ſelbſt in einigen einzelnen Faͤllen, in de-
nen wir uns gewiß halten, daß wir frey handeln, um
den Gang der Denkkraft zu ſehen, den ſie nimmt, wenn
ſie aus dem Gefuͤhle zu dem Gedanken kommt, ſie koͤn-
ne anders handeln, als ſie es wirklich thut. Dann of-
fenbaren ſich auch zugleich die Urſachen, die ihre Fehl-
tritte hierinn veranlaſſen. Jch will es noch bis weiter
hin uneroͤrtert laſſen, was es mit dieſem Vermoͤgen zum
Gegentheil eigentlich fuͤr eine Beſchaffenheit habe. Ge-
nug, es iſt etwas poſitives in dem ſeiner ſelbſt maͤchti-
gen Weſen; eine gewiſſe abſolute reelle Beſchaffenheit
deſſelben, die mit derjenigen Kraft, welche in Thaͤtigkeit
geſetzet iſt und die freye Handlung bewirket, zugleich
vorhanden iſt. Wir wiſſen, was ein Vermoͤgen zu den-
ken, und ein Vermoͤgen das Nachdenken zu unterbre-
chen; ein Vermoͤgen uns zu entſchließen, und ein Ver-
moͤgen unſern Entſchluß zu aͤndern; ein Vermoͤgen, die
Haͤnde und Fuͤße zu bewegen, und ein anders, ſie wieder

zur
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[11/0041] und Freyheit. pfindung verleiten laſſen, zu glauben, es ſey ein reelles Vermoͤgen in uns vorhanden, das nicht da war, ſollten wir deswegen nicht in andern Faͤllen es wiſſen koͤnnen, daß wir uns nicht irren, und uns von dem Daſeyn ei- nes ſolchen Vermoͤgens ſo vergewiſſern koͤnnen, als von dem Daſeyn der Koͤrperwelt außer uns? Ob wir denn nun aber nicht nachher dieſe Empfindungskenntniß wie- der aufgeben, und die ſubjektiviſche Wirklichkeit fuͤr ei- nen bloßen Schein erklaͤren muͤſſen, weil die Vernunft uns lehre, daß das objektiviſche Seyn der Sache etwas ungereimtes ſey, das iſt, wie ich ſchon erinnert habe, ei- ne ſpekulativiſche Frage, die uns nicht ſtoͤren muß, wo wir nur vorlaͤufig unterſuchen, ob die Beobachtung uns nicht die Wirklichkeit einer Sache lehre, oder uns ſol- che nur aufbinde? 3. Es iſt nichts mehr noͤthig, als eine genaue Beob- achtung unſerer ſelbſt in einigen einzelnen Faͤllen, in de- nen wir uns gewiß halten, daß wir frey handeln, um den Gang der Denkkraft zu ſehen, den ſie nimmt, wenn ſie aus dem Gefuͤhle zu dem Gedanken kommt, ſie koͤn- ne anders handeln, als ſie es wirklich thut. Dann of- fenbaren ſich auch zugleich die Urſachen, die ihre Fehl- tritte hierinn veranlaſſen. Jch will es noch bis weiter hin uneroͤrtert laſſen, was es mit dieſem Vermoͤgen zum Gegentheil eigentlich fuͤr eine Beſchaffenheit habe. Ge- nug, es iſt etwas poſitives in dem ſeiner ſelbſt maͤchti- gen Weſen; eine gewiſſe abſolute reelle Beſchaffenheit deſſelben, die mit derjenigen Kraft, welche in Thaͤtigkeit geſetzet iſt und die freye Handlung bewirket, zugleich vorhanden iſt. Wir wiſſen, was ein Vermoͤgen zu den- ken, und ein Vermoͤgen das Nachdenken zu unterbre- chen; ein Vermoͤgen uns zu entſchließen, und ein Ver- moͤgen unſern Entſchluß zu aͤndern; ein Vermoͤgen, die Haͤnde und Fuͤße zu bewegen, und ein anders, ſie wieder zur

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/41>, abgerufen am 19.04.2024.