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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Ken
den Werth der Kunstwerke sey. Es kann ein Werk
in Ansehung eines Theils der Kunst, große Voll-
kommenheit haben, und doch sehr wenig werth
seyn. (*) Daher kommen die einander so gerade
wiedersprechenden Urtheile der Künstler aus verschie-
denen Schulen.

Ein Werk ist zwar nie vollkommen, so lang ein
würklich geschikter Künstler Fehler darin entdecket;
aber es kann darum doch einen hohen Werth haben;
hingegen kann es ohne Werth seyn, wenn alle
Künstler zusammen, als Künstler, nichts auszusetzen
haben. Man sieht Gesichter, die jeden Menschen
von Empfindung zur Liebe reizen, an deren Zeich-
nung und Farbe verschiedenes auszusetzen ist, das
doch Niemand aussetzt, als wer über Verhältnis
und Colorit raffinirt hat: und es giebt Gedichte die
vermuthlich kein Mensch ließt, als die Dichter, die
also außer der Kunst gar keinen Werth haben. So
sieht man ofte die Tonkünstler mit Entzüken einer
Musik zuhören, die keinen andern Menschen das
geringste empfinden läßt.

Wenn wir hier als einen ausgemachten Grund-
satz annehmen, was an einem andern Orte be-
wiesen worden ist, (*) daß das, was den Kunstwer-
ken ihren eigentlichen Werth giebt, außer der Kunst
liege; so können wir auch behaupten, daß der Künst-
ler, der nicht zugleich die Kenntnis des Kenners
hat, nicht der eigentliche Richter über den Werth
der Kunstwerke sey.

Wollt ihr wissen, ob ein Werk Kunstmäßig sey, so
fraget den Künstler darüber; verlanget ihr aber zu
wissen, ob es zum öffentlichen, oder zum Privatge-
brauch, nach dem Endzwek der Künste schätzbar sey,
so fraget den Kenner; aber richtet euch niemals
nach einem fremden Urtheil, um zu entscheiden, ob
es euch gefallen, oder mißfallen soll, dieses müßt
ihr durch euer eigenes Gefühl ausmachen.

Die Frage wiefern jederman berechtiget, oder
tüchtig sey, über Künstler und Kunstwerke zu ur-
theilen, ist alt; und Cicero spricht an mehr Orten
davon. Man weiß, in wiefern Apelles der Sage
nach, dem gemeinen Mann ein Urtheil über seine
Gemählde zugestanden hat. Die Sache läßt sich
auf ganz einfache Grundsätze bringen, und völlig
entscheiden.

Wir müssen die Gründe dazu etwas weit her-
holen, doch kann es ohne große Weitläuftigkeit ge-
schehen. Jede klare Vorstellung, auf die wir Ach-
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Ken
tung geben, würkt entweder auf unsre Empfindung,
oder sie beschäftiget unsre Vorstellungskraft. Je-
nes geschieht auf eine mechanische, uns meistentheils
unbekannte Weise, da wir einen angenehmen oder
unangenehmen Eindruk von der Sache empfinden:
dieses äußert sich auf zweyerley Art; entweder be-
streben wir uns die Sache deutlich zu fassen, oder
wir beurtheilen sie. Diese drey Würkungen zeigen
sich gar oft auf einmal, so daß wir sie nicht unter-
scheiden. Daher geschieht es nicht selten, daß wir
von den vorkommenden Gegenständen ganz unbe-
stimmt sprechen, und Empfindungen wie Urtheile
aussprechen. Anstatt zu sagen, die Sache gefalle,
oder mißfalle uns, sagen wir, sie sey schön, voll-
kommen, gut, oder schlecht, unvollkommen und
häßlich. Das Wolgefallen, oder Mißfallen, kommt
gar ofte nicht von der Sache selbst her, sondern
entsteht aus der gelungenen oder mißlungenen Be-
mühung sie zu erkennen, die allemal etwas Vergnü-
gen oder Mißvergnügen erwekt. Auch dieses schrei-
ben wir ofte den Gegenstand zu, wo es doch nur
von uns selbst herkommt.

Auf diese Weise muß nothwendig in unsern Re-
den und Urtheilen eine große Verwirrung entstehen.
Aber es mangelt der Critik nicht an dem Leitfaden,
vermittelst dessen man sicher aus diesem Labyrinth
herauskommen kann. Man muß nur drey Sachen
wol von einander unterscheiden. 1. Den unmittel-
baren Eindruck des Wolgefallens oder Mißfallens,
den wir ohne alle Bemühung oder Mitwürkung un-
srer seits empfinden. 2. Die angenehme oder un-
angenehme Empfindung, die aus der gelungenen,
oder mißlungenen Bemühung entsteht, die wir an-
gewendet haben, eine deutliche Vorstellung von dem
Gegenstand zu bekommen. 3. Das Urtheil über
die Art der Sache, über ihre Vollkommenheit oder
Unvollkommenheit, Brauchbarkeit oder Unbrauch-
barkeit. Das erste ist, wie schon angemerkt wor-
den, ganz mechanisch, wie der Geschmak an Spei-
sen, und diese Art des Eindruks haben wir von den
Sachen, indem sie sich unsrer Vorstellungskraft dar-
stellen, es sey daß wir sie kennen, oder nicht kennen.
Die andre Empfindung erfolget niemals, als nach
einer Bestrebung die Sache zu erkennen, weil sie
eine Würkung dieser Bestrebung ist. Das Urtheil aber
hat nie statt, als da, wo wir den vorhandenen Ge-
genstand gegen ein Urbild halten, und die größere
oder geringere Uebereinstimmung damit entdeken.

Wenn
(*) S.
Werke der
Kunst.
(*) Art.
Werke der
Kunst.

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Ken
den Werth der Kunſtwerke ſey. Es kann ein Werk
in Anſehung eines Theils der Kunſt, große Voll-
kommenheit haben, und doch ſehr wenig werth
ſeyn. (*) Daher kommen die einander ſo gerade
wiederſprechenden Urtheile der Kuͤnſtler aus verſchie-
denen Schulen.

Ein Werk iſt zwar nie vollkommen, ſo lang ein
wuͤrklich geſchikter Kuͤnſtler Fehler darin entdecket;
aber es kann darum doch einen hohen Werth haben;
hingegen kann es ohne Werth ſeyn, wenn alle
Kuͤnſtler zuſammen, als Kuͤnſtler, nichts auszuſetzen
haben. Man ſieht Geſichter, die jeden Menſchen
von Empfindung zur Liebe reizen, an deren Zeich-
nung und Farbe verſchiedenes auszuſetzen iſt, das
doch Niemand ausſetzt, als wer uͤber Verhaͤltnis
und Colorit raffinirt hat: und es giebt Gedichte die
vermuthlich kein Menſch ließt, als die Dichter, die
alſo außer der Kunſt gar keinen Werth haben. So
ſieht man ofte die Tonkuͤnſtler mit Entzuͤken einer
Muſik zuhoͤren, die keinen andern Menſchen das
geringſte empfinden laͤßt.

Wenn wir hier als einen ausgemachten Grund-
ſatz annehmen, was an einem andern Orte be-
wieſen worden iſt, (*) daß das, was den Kunſtwer-
ken ihren eigentlichen Werth giebt, außer der Kunſt
liege; ſo koͤnnen wir auch behaupten, daß der Kuͤnſt-
ler, der nicht zugleich die Kenntnis des Kenners
hat, nicht der eigentliche Richter uͤber den Werth
der Kunſtwerke ſey.

Wollt ihr wiſſen, ob ein Werk Kunſtmaͤßig ſey, ſo
fraget den Kuͤnſtler daruͤber; verlanget ihr aber zu
wiſſen, ob es zum oͤffentlichen, oder zum Privatge-
brauch, nach dem Endzwek der Kuͤnſte ſchaͤtzbar ſey,
ſo fraget den Kenner; aber richtet euch niemals
nach einem fremden Urtheil, um zu entſcheiden, ob
es euch gefallen, oder mißfallen ſoll, dieſes muͤßt
ihr durch euer eigenes Gefuͤhl ausmachen.

Die Frage wiefern jederman berechtiget, oder
tuͤchtig ſey, uͤber Kuͤnſtler und Kunſtwerke zu ur-
theilen, iſt alt; und Cicero ſpricht an mehr Orten
davon. Man weiß, in wiefern Apelles der Sage
nach, dem gemeinen Mann ein Urtheil uͤber ſeine
Gemaͤhlde zugeſtanden hat. Die Sache laͤßt ſich
auf ganz einfache Grundſaͤtze bringen, und voͤllig
entſcheiden.

Wir muͤſſen die Gruͤnde dazu etwas weit her-
holen, doch kann es ohne große Weitlaͤuftigkeit ge-
ſchehen. Jede klare Vorſtellung, auf die wir Ach-
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Ken
tung geben, wuͤrkt entweder auf unſre Empfindung,
oder ſie beſchaͤftiget unſre Vorſtellungskraft. Je-
nes geſchieht auf eine mechaniſche, uns meiſtentheils
unbekannte Weiſe, da wir einen angenehmen oder
unangenehmen Eindruk von der Sache empfinden:
dieſes aͤußert ſich auf zweyerley Art; entweder be-
ſtreben wir uns die Sache deutlich zu faſſen, oder
wir beurtheilen ſie. Dieſe drey Wuͤrkungen zeigen
ſich gar oft auf einmal, ſo daß wir ſie nicht unter-
ſcheiden. Daher geſchieht es nicht ſelten, daß wir
von den vorkommenden Gegenſtaͤnden ganz unbe-
ſtimmt ſprechen, und Empfindungen wie Urtheile
ausſprechen. Anſtatt zu ſagen, die Sache gefalle,
oder mißfalle uns, ſagen wir, ſie ſey ſchoͤn, voll-
kommen, gut, oder ſchlecht, unvollkommen und
haͤßlich. Das Wolgefallen, oder Mißfallen, kommt
gar ofte nicht von der Sache ſelbſt her, ſondern
entſteht aus der gelungenen oder mißlungenen Be-
muͤhung ſie zu erkennen, die allemal etwas Vergnuͤ-
gen oder Mißvergnuͤgen erwekt. Auch dieſes ſchrei-
ben wir ofte den Gegenſtand zu, wo es doch nur
von uns ſelbſt herkommt.

Auf dieſe Weiſe muß nothwendig in unſern Re-
den und Urtheilen eine große Verwirrung entſtehen.
Aber es mangelt der Critik nicht an dem Leitfaden,
vermittelſt deſſen man ſicher aus dieſem Labyrinth
herauskommen kann. Man muß nur drey Sachen
wol von einander unterſcheiden. 1. Den unmittel-
baren Eindruck des Wolgefallens oder Mißfallens,
den wir ohne alle Bemuͤhung oder Mitwuͤrkung un-
ſrer ſeits empfinden. 2. Die angenehme oder un-
angenehme Empfindung, die aus der gelungenen,
oder mißlungenen Bemuͤhung entſteht, die wir an-
gewendet haben, eine deutliche Vorſtellung von dem
Gegenſtand zu bekommen. 3. Das Urtheil uͤber
die Art der Sache, uͤber ihre Vollkommenheit oder
Unvollkommenheit, Brauchbarkeit oder Unbrauch-
barkeit. Das erſte iſt, wie ſchon angemerkt wor-
den, ganz mechaniſch, wie der Geſchmak an Spei-
ſen, und dieſe Art des Eindruks haben wir von den
Sachen, indem ſie ſich unſrer Vorſtellungskraft dar-
ſtellen, es ſey daß wir ſie kennen, oder nicht kennen.
Die andre Empfindung erfolget niemals, als nach
einer Beſtrebung die Sache zu erkennen, weil ſie
eine Wuͤrkung dieſer Beſtrebung iſt. Das Urtheil aber
hat nie ſtatt, als da, wo wir den vorhandenen Ge-
genſtand gegen ein Urbild halten, und die groͤßere
oder geringere Uebereinſtimmung damit entdeken.

Wenn
(*) S.
Werke der
Kunſt.
(*) Art.
Werke der
Kunſt.
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 574. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/9>, abgerufen am 20.04.2024.