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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kal
schen gewöhnlicher, als der kalte, der eine Würkung
der Vernunft ist; darum wird jener dem Künstler
in der Bearbeitung, und dem Liebhaber in der
Beurtheilung, und im Genuß leichter, als dieser.

Aber eben deswegen hat der Künstler, um etwas
ganz vorzügliches zu machen, die Gelegenheit in
Acht zu nehmen, solche schwerere Charaktere zu be-
handeln. Dadurch kann er bey den feinesten Ken-
nern den größten Ruhm erwerben, und den Beyfall
der Menschen erhalten, die eine höhere Vernunft,
eine vorzügliche Stärke des Geistes, über die an-
dern erhebt. Das Kalte ist der Erhabenheit eben
so fähig, als das Leidenschaftliche, und rühret noch
mehr, weil es seltener ist, und höhere Gemüthskräfte
erfodert. Ein Beyspiel davon giebt uns der alte
Horaz des P. Corneille. Die Antwort, die ihm
der Dichter bey einer höchst leidenschaftlichen Gele-
genheit in den Mund legt. (*) Qu'il mouraut, wird
mit Recht unter den Beyspielen des Erhabenen an-
geführet. Sie ist kalte Vernunft, und ruhige
Stärke des Geistes. Und so ist der Abschied des
Noah und Sipha in der Noachide. (*)

Jn Absicht auf den Nutzen können wir anmerken,
daß man zwar sehr ofte nöthig hat, den trägen
Menschen anzutreiben, seine Kräfte zu brauchen:
aber auch nur gar zu ofte sind die Nerven der
Seele zu reizbar, und fodern den Einflus der küh-
lenden Vernunft.

Wir empfehlen dem epischen und dem dramati-
schen Dichter, ein ernstliches Nachdenken über die
Wichtigkeit der kalten Charaktere. Kommen sie
gleich selten vor, so sind sie dann von desto grös-
serm Gewichte. Selbst die Ode, oder wenigstens
das Lied verträgt bisweilen den kalten Ton der
Vernunft. Wer Lust hat in diesem Fach Versuche
zu machen, der kann sich dazu am besten dadurch
vorbereiten, daß er sich mit den Schriften der alten
Stoiker, und der ächten Schüler des Sokrates,
dem Xenophon und Aeschines bekannt macht. Denn
nirgend erscheinet die Vernunft so sehr in ihrer wah-
ren Stärke, als in diesen beyden Schulen der Phi-
losophie. Aber wie viel gehört nicht dazu, in
dieser Art glüklich zu seyn; wie leicht ist es nicht
hier matt und langweilig zu werden? Die Kunst
erfodert vorzüglich eine lebhafte Einbildungskraft;
und wie gar selten ist diese mit der starken Vernunft
verbunden?

[Spaltenumbruch]
Kal

Den Rednern und Schauspielern ist in Ansehung
des Vortrages noch ein Wort hierüber zu sagen.
Auch da scheinet es, daß man auf den feurigen
Ausdruck so viel Aufmerksamkeit wende, daß der
kalte darüber ganz vergessen wird. Und doch ist
dieser überall nothwendig, wo der Jnnhalt selbst
blos Vernunft ist. Wo Sachen vorkommen, die
in dem Ton der Berathschlagung und der Ueberle-
gung geschrieben sind, da muß der Vortrag kalt,
aber nachdrüklich seyn. Jn der Kälte des Redners
selbst liegt ofte schon die Kraft der Ueberzeugung,
so wie er wie es im Gegentheil ofte durch die Hitze,
womit er in uns dringet, uns verdächtig wird.

Es trift sich so gar, daß bey sehr wichtigen Ge-
genständen, die Sachen durch einen kalten Vortrag
weit mehr Nachdruk bekommen, als der lebhafteste,
feurigste Vortrag hätte bewürken können. Der Schau-
spieler kann die vorher angeführte Antwort des al-
ten Horaz nicht wol in einem zu kalten und ruhi-
gen Ton vortragen. Denn eben dadurch bekommt
der Charakter des Mannes seine Größe. Und wie
groß ist nicht das, was von dem Epiktet erzählt
wird, der seinem grausamen Herren, da er ihm in
der Wuth ein Bein zerbrochen, in ruhigem kalten
Ton sagt: Jch hatte dirs wol vorhergesagt, daß
es so kommen würde.
Es ist offenbar, daß dieses
um so viel stärkern Eindruk machen muß, je kälter
es gesagt wird.

Kalt, bezeichnet in der Mahlerey eine Unvoll-
kommenheit in dem Colorit, da nämlich den ge-
mahlten Gegenständen das Leben, und eine Wärme,
die man in der Natur darin zu fühlen glaubt, feh-
let. Nicht nur die Thiere, die so lange sie leben,
eine innerliche Wärme haben, sondern auch Land-
schaften, wo die Natur in ihrer vollen Würksamkeit
ist, erweken bisweilen eine Empfindung, die man
mit der Wärme vergleicht. Ueberhaupt wendet man
gar ofte die Begriffe von Wärme und Kälte auf
die Farben an. Gewissen Farben schreibet man
so gar ein Feuer zu, und so scheinen andre kalt.
Die schönen ganzen Farben, besonders wenn sie
glänzen, erweken den Begriff der Wärme; die ge-
brochenen und matten Farben aber, den Begriff der
Kälte. Also ist jedes Gemähld, wo matte Mittel-
farben herrschen, das daher aussieht, als wenn es
mit gefärbten Kreiden gemahlt wäre, kalt. Man
empfindet dabey, daß die Farben nicht das

glän-
(*) S Art.
Groß 1 Th.
S. 497.
(*) S. Art.
heroisch er-
ster Th. S.
536.

[Spaltenumbruch]

Kal
ſchen gewoͤhnlicher, als der kalte, der eine Wuͤrkung
der Vernunft iſt; darum wird jener dem Kuͤnſtler
in der Bearbeitung, und dem Liebhaber in der
Beurtheilung, und im Genuß leichter, als dieſer.

Aber eben deswegen hat der Kuͤnſtler, um etwas
ganz vorzuͤgliches zu machen, die Gelegenheit in
Acht zu nehmen, ſolche ſchwerere Charaktere zu be-
handeln. Dadurch kann er bey den feineſten Ken-
nern den groͤßten Ruhm erwerben, und den Beyfall
der Menſchen erhalten, die eine hoͤhere Vernunft,
eine vorzuͤgliche Staͤrke des Geiſtes, uͤber die an-
dern erhebt. Das Kalte iſt der Erhabenheit eben
ſo faͤhig, als das Leidenſchaftliche, und ruͤhret noch
mehr, weil es ſeltener iſt, und hoͤhere Gemuͤthskraͤfte
erfodert. Ein Beyſpiel davon giebt uns der alte
Horaz des P. Corneille. Die Antwort, die ihm
der Dichter bey einer hoͤchſt leidenſchaftlichen Gele-
genheit in den Mund legt. (*) Qu’il mourût, wird
mit Recht unter den Beyſpielen des Erhabenen an-
gefuͤhret. Sie iſt kalte Vernunft, und ruhige
Staͤrke des Geiſtes. Und ſo iſt der Abſchied des
Noah und Sipha in der Noachide. (*)

Jn Abſicht auf den Nutzen koͤnnen wir anmerken,
daß man zwar ſehr ofte noͤthig hat, den traͤgen
Menſchen anzutreiben, ſeine Kraͤfte zu brauchen:
aber auch nur gar zu ofte ſind die Nerven der
Seele zu reizbar, und fodern den Einflus der kuͤh-
lenden Vernunft.

Wir empfehlen dem epiſchen und dem dramati-
ſchen Dichter, ein ernſtliches Nachdenken uͤber die
Wichtigkeit der kalten Charaktere. Kommen ſie
gleich ſelten vor, ſo ſind ſie dann von deſto groͤſ-
ſerm Gewichte. Selbſt die Ode, oder wenigſtens
das Lied vertraͤgt bisweilen den kalten Ton der
Vernunft. Wer Luſt hat in dieſem Fach Verſuche
zu machen, der kann ſich dazu am beſten dadurch
vorbereiten, daß er ſich mit den Schriften der alten
Stoiker, und der aͤchten Schuͤler des Sokrates,
dem Xenophon und Aeſchines bekannt macht. Denn
nirgend erſcheinet die Vernunft ſo ſehr in ihrer wah-
ren Staͤrke, als in dieſen beyden Schulen der Phi-
loſophie. Aber wie viel gehoͤrt nicht dazu, in
dieſer Art gluͤklich zu ſeyn; wie leicht iſt es nicht
hier matt und langweilig zu werden? Die Kunſt
erfodert vorzuͤglich eine lebhafte Einbildungskraft;
und wie gar ſelten iſt dieſe mit der ſtarken Vernunft
verbunden?

[Spaltenumbruch]
Kal

Den Rednern und Schauſpielern iſt in Anſehung
des Vortrages noch ein Wort hieruͤber zu ſagen.
Auch da ſcheinet es, daß man auf den feurigen
Ausdruck ſo viel Aufmerkſamkeit wende, daß der
kalte daruͤber ganz vergeſſen wird. Und doch iſt
dieſer uͤberall nothwendig, wo der Jnnhalt ſelbſt
blos Vernunft iſt. Wo Sachen vorkommen, die
in dem Ton der Berathſchlagung und der Ueberle-
gung geſchrieben ſind, da muß der Vortrag kalt,
aber nachdruͤklich ſeyn. Jn der Kaͤlte des Redners
ſelbſt liegt ofte ſchon die Kraft der Ueberzeugung,
ſo wie er wie es im Gegentheil ofte durch die Hitze,
womit er in uns dringet, uns verdaͤchtig wird.

Es trift ſich ſo gar, daß bey ſehr wichtigen Ge-
genſtaͤnden, die Sachen durch einen kalten Vortrag
weit mehr Nachdruk bekommen, als der lebhafteſte,
feurigſte Vortrag haͤtte bewuͤrken koͤnnen. Der Schau-
ſpieler kann die vorher angefuͤhrte Antwort des al-
ten Horaz nicht wol in einem zu kalten und ruhi-
gen Ton vortragen. Denn eben dadurch bekommt
der Charakter des Mannes ſeine Groͤße. Und wie
groß iſt nicht das, was von dem Epiktet erzaͤhlt
wird, der ſeinem grauſamen Herren, da er ihm in
der Wuth ein Bein zerbrochen, in ruhigem kalten
Ton ſagt: Jch hatte dirs wol vorhergeſagt, daß
es ſo kommen wuͤrde.
Es iſt offenbar, daß dieſes
um ſo viel ſtaͤrkern Eindruk machen muß, je kaͤlter
es geſagt wird.

Kalt, bezeichnet in der Mahlerey eine Unvoll-
kommenheit in dem Colorit, da naͤmlich den ge-
mahlten Gegenſtaͤnden das Leben, und eine Waͤrme,
die man in der Natur darin zu fuͤhlen glaubt, feh-
let. Nicht nur die Thiere, die ſo lange ſie leben,
eine innerliche Waͤrme haben, ſondern auch Land-
ſchaften, wo die Natur in ihrer vollen Wuͤrkſamkeit
iſt, erweken bisweilen eine Empfindung, die man
mit der Waͤrme vergleicht. Ueberhaupt wendet man
gar ofte die Begriffe von Waͤrme und Kaͤlte auf
die Farben an. Gewiſſen Farben ſchreibet man
ſo gar ein Feuer zu, und ſo ſcheinen andre kalt.
Die ſchoͤnen ganzen Farben, beſonders wenn ſie
glaͤnzen, erweken den Begriff der Waͤrme; die ge-
brochenen und matten Farben aber, den Begriff der
Kaͤlte. Alſo iſt jedes Gemaͤhld, wo matte Mittel-
farben herrſchen, das daher ausſieht, als wenn es
mit gefaͤrbten Kreiden gemahlt waͤre, kalt. Man
empfindet dabey, daß die Farben nicht das

glaͤn-
(*) S Art.
Groß 1 Th.
S. 497.
(*) S. Art.
heroiſch er-
ſter Th. S.
536.
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[570/0005] Kal Kal ſchen gewoͤhnlicher, als der kalte, der eine Wuͤrkung der Vernunft iſt; darum wird jener dem Kuͤnſtler in der Bearbeitung, und dem Liebhaber in der Beurtheilung, und im Genuß leichter, als dieſer. Aber eben deswegen hat der Kuͤnſtler, um etwas ganz vorzuͤgliches zu machen, die Gelegenheit in Acht zu nehmen, ſolche ſchwerere Charaktere zu be- handeln. Dadurch kann er bey den feineſten Ken- nern den groͤßten Ruhm erwerben, und den Beyfall der Menſchen erhalten, die eine hoͤhere Vernunft, eine vorzuͤgliche Staͤrke des Geiſtes, uͤber die an- dern erhebt. Das Kalte iſt der Erhabenheit eben ſo faͤhig, als das Leidenſchaftliche, und ruͤhret noch mehr, weil es ſeltener iſt, und hoͤhere Gemuͤthskraͤfte erfodert. Ein Beyſpiel davon giebt uns der alte Horaz des P. Corneille. Die Antwort, die ihm der Dichter bey einer hoͤchſt leidenſchaftlichen Gele- genheit in den Mund legt. (*) Qu’il mourût, wird mit Recht unter den Beyſpielen des Erhabenen an- gefuͤhret. Sie iſt kalte Vernunft, und ruhige Staͤrke des Geiſtes. Und ſo iſt der Abſchied des Noah und Sipha in der Noachide. (*) Jn Abſicht auf den Nutzen koͤnnen wir anmerken, daß man zwar ſehr ofte noͤthig hat, den traͤgen Menſchen anzutreiben, ſeine Kraͤfte zu brauchen: aber auch nur gar zu ofte ſind die Nerven der Seele zu reizbar, und fodern den Einflus der kuͤh- lenden Vernunft. Wir empfehlen dem epiſchen und dem dramati- ſchen Dichter, ein ernſtliches Nachdenken uͤber die Wichtigkeit der kalten Charaktere. Kommen ſie gleich ſelten vor, ſo ſind ſie dann von deſto groͤſ- ſerm Gewichte. Selbſt die Ode, oder wenigſtens das Lied vertraͤgt bisweilen den kalten Ton der Vernunft. Wer Luſt hat in dieſem Fach Verſuche zu machen, der kann ſich dazu am beſten dadurch vorbereiten, daß er ſich mit den Schriften der alten Stoiker, und der aͤchten Schuͤler des Sokrates, dem Xenophon und Aeſchines bekannt macht. Denn nirgend erſcheinet die Vernunft ſo ſehr in ihrer wah- ren Staͤrke, als in dieſen beyden Schulen der Phi- loſophie. Aber wie viel gehoͤrt nicht dazu, in dieſer Art gluͤklich zu ſeyn; wie leicht iſt es nicht hier matt und langweilig zu werden? Die Kunſt erfodert vorzuͤglich eine lebhafte Einbildungskraft; und wie gar ſelten iſt dieſe mit der ſtarken Vernunft verbunden? Den Rednern und Schauſpielern iſt in Anſehung des Vortrages noch ein Wort hieruͤber zu ſagen. Auch da ſcheinet es, daß man auf den feurigen Ausdruck ſo viel Aufmerkſamkeit wende, daß der kalte daruͤber ganz vergeſſen wird. Und doch iſt dieſer uͤberall nothwendig, wo der Jnnhalt ſelbſt blos Vernunft iſt. Wo Sachen vorkommen, die in dem Ton der Berathſchlagung und der Ueberle- gung geſchrieben ſind, da muß der Vortrag kalt, aber nachdruͤklich ſeyn. Jn der Kaͤlte des Redners ſelbſt liegt ofte ſchon die Kraft der Ueberzeugung, ſo wie er wie es im Gegentheil ofte durch die Hitze, womit er in uns dringet, uns verdaͤchtig wird. Es trift ſich ſo gar, daß bey ſehr wichtigen Ge- genſtaͤnden, die Sachen durch einen kalten Vortrag weit mehr Nachdruk bekommen, als der lebhafteſte, feurigſte Vortrag haͤtte bewuͤrken koͤnnen. Der Schau- ſpieler kann die vorher angefuͤhrte Antwort des al- ten Horaz nicht wol in einem zu kalten und ruhi- gen Ton vortragen. Denn eben dadurch bekommt der Charakter des Mannes ſeine Groͤße. Und wie groß iſt nicht das, was von dem Epiktet erzaͤhlt wird, der ſeinem grauſamen Herren, da er ihm in der Wuth ein Bein zerbrochen, in ruhigem kalten Ton ſagt: Jch hatte dirs wol vorhergeſagt, daß es ſo kommen wuͤrde. Es iſt offenbar, daß dieſes um ſo viel ſtaͤrkern Eindruk machen muß, je kaͤlter es geſagt wird. Kalt, bezeichnet in der Mahlerey eine Unvoll- kommenheit in dem Colorit, da naͤmlich den ge- mahlten Gegenſtaͤnden das Leben, und eine Waͤrme, die man in der Natur darin zu fuͤhlen glaubt, feh- let. Nicht nur die Thiere, die ſo lange ſie leben, eine innerliche Waͤrme haben, ſondern auch Land- ſchaften, wo die Natur in ihrer vollen Wuͤrkſamkeit iſt, erweken bisweilen eine Empfindung, die man mit der Waͤrme vergleicht. Ueberhaupt wendet man gar ofte die Begriffe von Waͤrme und Kaͤlte auf die Farben an. Gewiſſen Farben ſchreibet man ſo gar ein Feuer zu, und ſo ſcheinen andre kalt. Die ſchoͤnen ganzen Farben, beſonders wenn ſie glaͤnzen, erweken den Begriff der Waͤrme; die ge- brochenen und matten Farben aber, den Begriff der Kaͤlte. Alſo iſt jedes Gemaͤhld, wo matte Mittel- farben herrſchen, das daher ausſieht, als wenn es mit gefaͤrbten Kreiden gemahlt waͤre, kalt. Man empfindet dabey, daß die Farben nicht das glaͤn- (*) S Art. Groß 1 Th. S. 497. (*) S. Art. heroiſch er- ſter Th. S. 536.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/5>, abgerufen am 23.04.2024.