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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kün
Die Geometrie war im Anfange nichts, als eine
sehr rohe Feldmesserey, und die Astronomie eine,
aus bloßer Neugier entstandene Beschäftigung müßi-
ger Menschen. Zu der Höhe und dem ausnehmenden
Nutzen, den diese Wissenschaften dem menschlichen
Geschlechte leisten, sind sie durch anhaltende, vernünf-
tige Erweiterung ihrer ursprünglichen Anlage, gestiegen.

Wenn wir also gleich mit völliger Znversichtlich-
keit wüßten, daß die schönen Künste in ihren An-
fängen nichts anders, als Versuche gewesen, das
Aug oder andre Sinnen zu ergötzen, so sey es ferne
von uns, daß wir darinn ihre ganze Nutzbarkeit
und ihren höchsten Zwek suchen sollten. Wir müs-
sen, um von dem Werthe des Menschen richtig zu
urtheilen, ihn nicht in der ersten Kindheit, sondern
in dem vollen männlichen Alter betrachten.

Hier ist also zuerst die Frage zu untersuchen, was
die Künste in ihrem ganzen Wesen seyn können, und
was von ihnen zum Nutzen der Menschen zu erwar-
ten sey. Wenn schwache, oder leichtsinnige Köpfe
uns sagen, sie zielen blos auf Ergötzlichkeit ab, und
ihr letzter Endzwek sey die Belustigung der Sinne
und Einbildungskraft, so wollen wir erforschen,
ob die Vernunft nichts grösseres darinn entdecke.
Wir wollen sehen, wie weit die Weisheit den Hang
zur Kunst gebohrnen Menschen, alles reizend zu ma-
chen, und die bey allen Menschen sich zeigende Anlage
vom Schönen gerührt zu werden, nutzen könne.

Es ist nicht nothwendig, daß wir uns, um diese
Absicht zu erreichen, in tiefsinnige und weitläu-
sige Untersuchungen einlassen. Wir finden in der
Beobachtung der Natur einen weit näheren Weg,
das, was wir suchen, zu entdeken. Sie ist die
erste Künstlerin, und in ihren wunderbaren Veran-
staltungen entdeken wir alles, was den menschlichen
Künsten die höchste Vollkommenheit und den größ-
ten Werth geben kann.

Jn der ganzen Schöpfung stimmt alles darinn
überein, daß das Aug und die andern Sinnen
von allen Seiten her durch angenehme Eindrüke ge-
rührt werden. Jedes zu unserm Gebrauch dienende
Wesen hat ausser seiner Nutzbarkeit auch Schönheit.
Selbst die, welche uns nicht unmittelbar angehen,
scheinen blos darum, weil wir sie täglich vor Augen
haben, nach schönen Formen gebildet und mit schö-
nen Farben bekleidet zu seyn.

Ohne Zweifel wollte die Natur durch die von
allen Seiten auf uns zuströhmenden Annehmlichkei-
[Spaltenumbruch]

Kün
ten unsre Gemüther überhaupt zu der Sanftmuth
und Empfindsamkeit bilden, wodurch das rauhe
Wesen, das eine übertriebene Selbstliebe und stär-
kere Leidenschaften geben, mit Lieblichkeit gemäßiget
wird. Diese Schönheiten sind einer in uns lie-
genden feineren Empfindsamkeit angemessen; durch
den Eindruk, den die Farben, Formen und Stim-
men der Natur auf uns machen, wird sie beständig
gereizt, und dadurch wird ein zarteres Gefühl in
uns rege, Geist und Herz werden geschäftiger und
nicht nur die gröbern Empfindungen, die wir mit
den Thieren gemein haben, sondern auch die sanf-
ten Eindrüke werden in uns würksam. Dadurch
werden wir zu Menschen; unsre Thätigkeit wird
vermehret, weil wir mehrere Dinge interessant fin-
den, es entsteht eine allgemeine Bestrebung aller in
uns liegenden Kräfte, wir heben uns aus dem
Staub empor, und nähern uns dem Adel höherer
Wesen. Wir finden nun die Natur nicht mehr zu
der bloßen Befriedigung unsrer thierischen Bedürf-
nisse, sondern zu einem feinern Genuß und zu all-
mähliger Erhöhung unsers Wesens eingerichtet.

Aber bey dieser allgemeinen Verschönerung der
Schöpfung überhaupt, hat die Natur es noch nicht
bewenden lassen. Vorzüglich hat diese zärtliche
Mutter den vollen Reiz der Annehmlichkeit in die
Gegenstände gelegt, die uns zur Glükseligkeit am
nöthigsten sind. Sie wendet Schönheit und Häß-
lichkeit an, um uns das Gute und Böse kennbar
zu machen; jenem giebt sie einen höhern Reiz, da-
mit wir es lieben; diesem eine widrige Kraft, daß
wir es verabscheuen. Was ist zum Glük des Men-
schen und zu Erfüllung seiner wichtigsten Bestim-
mung nothwendiger, als die gesellschaftlichen Ver-
bindungen mit andern Menschen, die durch gegen-
seitig verursachtes Vergnügen geknüpft wird? Be-
sonders die seelige Vereinigung, wodurch der auch
in der grössern Gesellschaft noch einzele Mensch eine,
ihm so unentbehrliche Mitgenoßin aller seiner Güter
findet, die seine Freuden durch den Mitgenuß ver-
grössert, seinen Kummer mildert, und alle seine
Mühe erleichtert? Und wohin hat die Natur mehr
Annehmlichkeit und mehr Reiz gelegt, als in die
menschliche Gestalt, wodurch die stärksten Bande
der Sympathie geknüpft werden? Aber die höchsten
Reizungen der Schönheit finden sich da, wo sie,
um die seeligsten Verbindungen zu bewürken, am
nöthigsten waren. Die stärksten aller anziehenden

Kräfte,

[Spaltenumbruch]

Kuͤn
Die Geometrie war im Anfange nichts, als eine
ſehr rohe Feldmeſſerey, und die Aſtronomie eine,
aus bloßer Neugier entſtandene Beſchaͤftigung muͤßi-
ger Menſchen. Zu der Hoͤhe und dem ausnehmenden
Nutzen, den dieſe Wiſſenſchaften dem menſchlichen
Geſchlechte leiſten, ſind ſie durch anhaltende, vernuͤnf-
tige Erweiterung ihrer urſpruͤnglichen Anlage, geſtiegen.

Wenn wir alſo gleich mit voͤlliger Znverſichtlich-
keit wuͤßten, daß die ſchoͤnen Kuͤnſte in ihren An-
faͤngen nichts anders, als Verſuche geweſen, das
Aug oder andre Sinnen zu ergoͤtzen, ſo ſey es ferne
von uns, daß wir darinn ihre ganze Nutzbarkeit
und ihren hoͤchſten Zwek ſuchen ſollten. Wir muͤſ-
ſen, um von dem Werthe des Menſchen richtig zu
urtheilen, ihn nicht in der erſten Kindheit, ſondern
in dem vollen maͤnnlichen Alter betrachten.

Hier iſt alſo zuerſt die Frage zu unterſuchen, was
die Kuͤnſte in ihrem ganzen Weſen ſeyn koͤnnen, und
was von ihnen zum Nutzen der Menſchen zu erwar-
ten ſey. Wenn ſchwache, oder leichtſinnige Koͤpfe
uns ſagen, ſie zielen blos auf Ergoͤtzlichkeit ab, und
ihr letzter Endzwek ſey die Beluſtigung der Sinne
und Einbildungskraft, ſo wollen wir erforſchen,
ob die Vernunft nichts groͤſſeres darinn entdecke.
Wir wollen ſehen, wie weit die Weisheit den Hang
zur Kunſt gebohrnen Menſchen, alles reizend zu ma-
chen, und die bey allen Menſchen ſich zeigende Anlage
vom Schoͤnen geruͤhrt zu werden, nutzen koͤnne.

Es iſt nicht nothwendig, daß wir uns, um dieſe
Abſicht zu erreichen, in tiefſinnige und weitlaͤu-
ſige Unterſuchungen einlaſſen. Wir finden in der
Beobachtung der Natur einen weit naͤheren Weg,
das, was wir ſuchen, zu entdeken. Sie iſt die
erſte Kuͤnſtlerin, und in ihren wunderbaren Veran-
ſtaltungen entdeken wir alles, was den menſchlichen
Kuͤnſten die hoͤchſte Vollkommenheit und den groͤß-
ten Werth geben kann.

Jn der ganzen Schoͤpfung ſtimmt alles darinn
uͤberein, daß das Aug und die andern Sinnen
von allen Seiten her durch angenehme Eindruͤke ge-
ruͤhrt werden. Jedes zu unſerm Gebrauch dienende
Weſen hat auſſer ſeiner Nutzbarkeit auch Schoͤnheit.
Selbſt die, welche uns nicht unmittelbar angehen,
ſcheinen blos darum, weil wir ſie taͤglich vor Augen
haben, nach ſchoͤnen Formen gebildet und mit ſchoͤ-
nen Farben bekleidet zu ſeyn.

Ohne Zweifel wollte die Natur durch die von
allen Seiten auf uns zuſtroͤhmenden Annehmlichkei-
[Spaltenumbruch]

Kuͤn
ten unſre Gemuͤther uͤberhaupt zu der Sanftmuth
und Empfindſamkeit bilden, wodurch das rauhe
Weſen, das eine uͤbertriebene Selbſtliebe und ſtaͤr-
kere Leidenſchaften geben, mit Lieblichkeit gemaͤßiget
wird. Dieſe Schoͤnheiten ſind einer in uns lie-
genden feineren Empfindſamkeit angemeſſen; durch
den Eindruk, den die Farben, Formen und Stim-
men der Natur auf uns machen, wird ſie beſtaͤndig
gereizt, und dadurch wird ein zarteres Gefuͤhl in
uns rege, Geiſt und Herz werden geſchaͤftiger und
nicht nur die groͤbern Empfindungen, die wir mit
den Thieren gemein haben, ſondern auch die ſanf-
ten Eindruͤke werden in uns wuͤrkſam. Dadurch
werden wir zu Menſchen; unſre Thaͤtigkeit wird
vermehret, weil wir mehrere Dinge intereſſant fin-
den, es entſteht eine allgemeine Beſtrebung aller in
uns liegenden Kraͤfte, wir heben uns aus dem
Staub empor, und naͤhern uns dem Adel hoͤherer
Weſen. Wir finden nun die Natur nicht mehr zu
der bloßen Befriedigung unſrer thieriſchen Beduͤrf-
niſſe, ſondern zu einem feinern Genuß und zu all-
maͤhliger Erhoͤhung unſers Weſens eingerichtet.

Aber bey dieſer allgemeinen Verſchoͤnerung der
Schoͤpfung uͤberhaupt, hat die Natur es noch nicht
bewenden laſſen. Vorzuͤglich hat dieſe zaͤrtliche
Mutter den vollen Reiz der Annehmlichkeit in die
Gegenſtaͤnde gelegt, die uns zur Gluͤkſeligkeit am
noͤthigſten ſind. Sie wendet Schoͤnheit und Haͤß-
lichkeit an, um uns das Gute und Boͤſe kennbar
zu machen; jenem giebt ſie einen hoͤhern Reiz, da-
mit wir es lieben; dieſem eine widrige Kraft, daß
wir es verabſcheuen. Was iſt zum Gluͤk des Men-
ſchen und zu Erfuͤllung ſeiner wichtigſten Beſtim-
mung nothwendiger, als die geſellſchaftlichen Ver-
bindungen mit andern Menſchen, die durch gegen-
ſeitig verurſachtes Vergnuͤgen geknuͤpft wird? Be-
ſonders die ſeelige Vereinigung, wodurch der auch
in der groͤſſern Geſellſchaft noch einzele Menſch eine,
ihm ſo unentbehrliche Mitgenoßin aller ſeiner Guͤter
findet, die ſeine Freuden durch den Mitgenuß ver-
groͤſſert, ſeinen Kummer mildert, und alle ſeine
Muͤhe erleichtert? Und wohin hat die Natur mehr
Annehmlichkeit und mehr Reiz gelegt, als in die
menſchliche Geſtalt, wodurch die ſtaͤrkſten Bande
der Sympathie geknuͤpft werden? Aber die hoͤchſten
Reizungen der Schoͤnheit finden ſich da, wo ſie,
um die ſeeligſten Verbindungen zu bewuͤrken, am
noͤthigſten waren. Die ſtaͤrkſten aller anziehenden

Kraͤfte,
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[610/0045] Kuͤn Kuͤn Die Geometrie war im Anfange nichts, als eine ſehr rohe Feldmeſſerey, und die Aſtronomie eine, aus bloßer Neugier entſtandene Beſchaͤftigung muͤßi- ger Menſchen. Zu der Hoͤhe und dem ausnehmenden Nutzen, den dieſe Wiſſenſchaften dem menſchlichen Geſchlechte leiſten, ſind ſie durch anhaltende, vernuͤnf- tige Erweiterung ihrer urſpruͤnglichen Anlage, geſtiegen. Wenn wir alſo gleich mit voͤlliger Znverſichtlich- keit wuͤßten, daß die ſchoͤnen Kuͤnſte in ihren An- faͤngen nichts anders, als Verſuche geweſen, das Aug oder andre Sinnen zu ergoͤtzen, ſo ſey es ferne von uns, daß wir darinn ihre ganze Nutzbarkeit und ihren hoͤchſten Zwek ſuchen ſollten. Wir muͤſ- ſen, um von dem Werthe des Menſchen richtig zu urtheilen, ihn nicht in der erſten Kindheit, ſondern in dem vollen maͤnnlichen Alter betrachten. Hier iſt alſo zuerſt die Frage zu unterſuchen, was die Kuͤnſte in ihrem ganzen Weſen ſeyn koͤnnen, und was von ihnen zum Nutzen der Menſchen zu erwar- ten ſey. Wenn ſchwache, oder leichtſinnige Koͤpfe uns ſagen, ſie zielen blos auf Ergoͤtzlichkeit ab, und ihr letzter Endzwek ſey die Beluſtigung der Sinne und Einbildungskraft, ſo wollen wir erforſchen, ob die Vernunft nichts groͤſſeres darinn entdecke. Wir wollen ſehen, wie weit die Weisheit den Hang zur Kunſt gebohrnen Menſchen, alles reizend zu ma- chen, und die bey allen Menſchen ſich zeigende Anlage vom Schoͤnen geruͤhrt zu werden, nutzen koͤnne. Es iſt nicht nothwendig, daß wir uns, um dieſe Abſicht zu erreichen, in tiefſinnige und weitlaͤu- ſige Unterſuchungen einlaſſen. Wir finden in der Beobachtung der Natur einen weit naͤheren Weg, das, was wir ſuchen, zu entdeken. Sie iſt die erſte Kuͤnſtlerin, und in ihren wunderbaren Veran- ſtaltungen entdeken wir alles, was den menſchlichen Kuͤnſten die hoͤchſte Vollkommenheit und den groͤß- ten Werth geben kann. Jn der ganzen Schoͤpfung ſtimmt alles darinn uͤberein, daß das Aug und die andern Sinnen von allen Seiten her durch angenehme Eindruͤke ge- ruͤhrt werden. Jedes zu unſerm Gebrauch dienende Weſen hat auſſer ſeiner Nutzbarkeit auch Schoͤnheit. Selbſt die, welche uns nicht unmittelbar angehen, ſcheinen blos darum, weil wir ſie taͤglich vor Augen haben, nach ſchoͤnen Formen gebildet und mit ſchoͤ- nen Farben bekleidet zu ſeyn. Ohne Zweifel wollte die Natur durch die von allen Seiten auf uns zuſtroͤhmenden Annehmlichkei- ten unſre Gemuͤther uͤberhaupt zu der Sanftmuth und Empfindſamkeit bilden, wodurch das rauhe Weſen, das eine uͤbertriebene Selbſtliebe und ſtaͤr- kere Leidenſchaften geben, mit Lieblichkeit gemaͤßiget wird. Dieſe Schoͤnheiten ſind einer in uns lie- genden feineren Empfindſamkeit angemeſſen; durch den Eindruk, den die Farben, Formen und Stim- men der Natur auf uns machen, wird ſie beſtaͤndig gereizt, und dadurch wird ein zarteres Gefuͤhl in uns rege, Geiſt und Herz werden geſchaͤftiger und nicht nur die groͤbern Empfindungen, die wir mit den Thieren gemein haben, ſondern auch die ſanf- ten Eindruͤke werden in uns wuͤrkſam. Dadurch werden wir zu Menſchen; unſre Thaͤtigkeit wird vermehret, weil wir mehrere Dinge intereſſant fin- den, es entſteht eine allgemeine Beſtrebung aller in uns liegenden Kraͤfte, wir heben uns aus dem Staub empor, und naͤhern uns dem Adel hoͤherer Weſen. Wir finden nun die Natur nicht mehr zu der bloßen Befriedigung unſrer thieriſchen Beduͤrf- niſſe, ſondern zu einem feinern Genuß und zu all- maͤhliger Erhoͤhung unſers Weſens eingerichtet. Aber bey dieſer allgemeinen Verſchoͤnerung der Schoͤpfung uͤberhaupt, hat die Natur es noch nicht bewenden laſſen. Vorzuͤglich hat dieſe zaͤrtliche Mutter den vollen Reiz der Annehmlichkeit in die Gegenſtaͤnde gelegt, die uns zur Gluͤkſeligkeit am noͤthigſten ſind. Sie wendet Schoͤnheit und Haͤß- lichkeit an, um uns das Gute und Boͤſe kennbar zu machen; jenem giebt ſie einen hoͤhern Reiz, da- mit wir es lieben; dieſem eine widrige Kraft, daß wir es verabſcheuen. Was iſt zum Gluͤk des Men- ſchen und zu Erfuͤllung ſeiner wichtigſten Beſtim- mung nothwendiger, als die geſellſchaftlichen Ver- bindungen mit andern Menſchen, die durch gegen- ſeitig verurſachtes Vergnuͤgen geknuͤpft wird? Be- ſonders die ſeelige Vereinigung, wodurch der auch in der groͤſſern Geſellſchaft noch einzele Menſch eine, ihm ſo unentbehrliche Mitgenoßin aller ſeiner Guͤter findet, die ſeine Freuden durch den Mitgenuß ver- groͤſſert, ſeinen Kummer mildert, und alle ſeine Muͤhe erleichtert? Und wohin hat die Natur mehr Annehmlichkeit und mehr Reiz gelegt, als in die menſchliche Geſtalt, wodurch die ſtaͤrkſten Bande der Sympathie geknuͤpft werden? Aber die hoͤchſten Reizungen der Schoͤnheit finden ſich da, wo ſie, um die ſeeligſten Verbindungen zu bewuͤrken, am noͤthigſten waren. Die ſtaͤrkſten aller anziehenden Kraͤfte,

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 610. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/45>, abgerufen am 19.04.2024.