Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

Bild:
<< vorherige Seite
[Spaltenumbruch]
Kno

Je größer der Dichter diese Schwierigkeiten zu ma-
chen weiß, je mehr Gelegenheit hat er die Frucht-
barkeit seines Geistes und die Größe seines Herzens
zu zeigen. Hier liegt also die Schwierigkeit in der
Bewürkung des Ausganges.

Es giebt noch eine andre Art des Knotens, der
nicht von Hinternissen entsteht, die sich einer Hand-
lung in Weg legen, sondern wo die Schwierigkeit
darin liegt, daß uns die Größe der würkenden Ur-
sachen, das Fundament, worauf sie sich stützen,
deutlich vor Augen gestellt werde. Große Dinge
rühren uns entweder durch den Erfolg selbst, den
sie haben, oder durch die Kraft wodurch er hervor-
gebracht worden. Daß Leonidas mit seiner klei-
nen Schaar bey Thermopylä von einem unermeßli-
chen Heer Feinde niedergemacht worden, hat in dem
Erfolg selbst nichts wunderbares; aber woher dieser
kleinen Schaar der Muth gekommen, gegen eine
so gar überlegene Macht zu streiten, und ihr eini-
germaaßen den Sieg zweifelhaft zu machen, dieses
begreiflich zu machen, erfodert Kunst.

Die größte Handlung, selbst das größte Wun-
derwerk, reizt unsre Aufmerksamkeit nur in so fern
wir die Schwierigkeit derselben einsehen, oder den
Erfolg mit den Kräften vergleichen können. Die
äusserste Freygäbigkeit eines Menschen, den wir
für einen Goldmacher hielten, würde uns gar nicht
merkwürdig scheinen. Aber eine große Freygäbig-
keit an einem Menschen, den wir nicht in Ueberflus
glauben, wird uns intressant, wir wollen wissen,
wie er zu solchen Entschlüssen komme, die ihm na-
türlicher Weise sehr viel kosten müssen.

Bey Charakteren und Handlungen der Menschen,
ist es nicht hinlänglich, daß man sie uns als groß
vorstellt; man muß uns ihre Größe begreiflich ma-
chen, man muß uns ihre Kräfte und das Funda-
ment, worauf sie sich stützen, sehen lassen, damit
wir wenigstens einigermaaßen begreifen, wie sie zu
der Höhe, die wir bewundern, aufgeschwollen sind.
Dieses macht den Knoten aus, der uns die Sachen
interessant vorstellt.

Er entsteht insgemein aus einem Streit der Lei-
denschaften, oder dem Zusammenstoß entgegenstrei-
tender Jnteressen.

Von dieser Art ist der Hauptknoten in der Jlias.
Es ist eine gemeine Sache, daß zwey Besehlshaber
bey einem Heer sich entzweyen, und daß üble Fol-
gen daraus entstehen. Oder, wenn man sich die
[Spaltenumbruch]

Kno
Sache so vorstellen will: es war in der Begebenheit,
daß Achilles und Agamemnon sich entzweyt haben,
daß der erstere sich von dem Heer getrennt, daß da-
durch die Griechen in Verlegenheit gekommen; daß
Achilles zuletzt sich wieder ins Schlachtfeld begeben
hat u. s. f. nichts Ausserordentliches: aber der Dich-
ter hat diese Begebenheit von gemeiner Art so zu
behandlen gewußt, daß dadurch eine ausserordent-
liche Verwiklung der Sachen entsteht. Von dieser
Art ist auch der Hauptknoten in Geßners Tod Abels.
Ein Bruder bringt den andern aus Haß um; hier
scheinet keine Verwiklung zu seyn. Aber wodurch
konnte Kain, zu einer solchen Wuth des Hasses ge-
bracht werden? Hier entsteht ein Knoten. Der
Dichter mußte hinlängliche Ursachen finden, den
Haß des Mörders nach und nach anschwellen und
bis zu dem entsetzlichsten Uebermaas wachsen zu las-
sen, der die Würkung desselben begreiflich macht.
Das größte Beyspiel eines Knotens von dieser Art,
ist Klopstoks Behandlung des Todes Jesu. Es ist
eine gemeine Sache, daß ein Mensch unter dem
Hasse seiner Feinde erliegt und unschuldiger Weise
hingerichtet wird. Hier war die Schwierigkeit
nicht in der Bewürkung des Ausganges der Hand-
lung, sondern darin, daß eine gemein scheinende
Sache, als die größte und wichtigste aller Begeben-
heit, an der das ganze Reich der Geister Antheil
nihmt, vorgestellt würde.

Bey Untersuchungen und andern Gegenständen
des Lehrgedichts und der Beredsamkeit hat ebenfalls
diese doppelte Art des Knotens statt. Entweder
liegen Schwierigkeiten wesentlich in der Sache selbst
und der Redner oder Dichter hat blos darauf zu se-
hen, daß er sie deutlich vorstelle; oder die Sache
ist an sich zwar leicht und offenbar genug, aber um
die Aufmerksamkeit mehr zu reizen, muß sie durch
das Genio des Redners in einem sehr wichtigen
und intressanten Lichte vorgestellt werden. Der letz-
tere Fall hat oft große Schwierigkeiten, und erfodert
einem Mann von viel Genie. Man kann z. B.
voraussetzen, daß bey der dritten Philippischen Rede
des Cicero jeder Zuhörer schon einen Abscheu vor
dem Antonius habe und geneigt sey, ihn für einen
Feind des Staats zu erklären. Jn solchen Umstän-
den muß der Redner den Vorstellungen schlechter-
dings eine neue Wendung geben, und darin einen
Knoten, oder eine Aufhaltung suchen, daß er seinen
Gegenstand in einem noch nicht bemerkten Lichte

zei-
[Spaltenumbruch]
Kno

Je groͤßer der Dichter dieſe Schwierigkeiten zu ma-
chen weiß, je mehr Gelegenheit hat er die Frucht-
barkeit ſeines Geiſtes und die Groͤße ſeines Herzens
zu zeigen. Hier liegt alſo die Schwierigkeit in der
Bewuͤrkung des Ausganges.

Es giebt noch eine andre Art des Knotens, der
nicht von Hinterniſſen entſteht, die ſich einer Hand-
lung in Weg legen, ſondern wo die Schwierigkeit
darin liegt, daß uns die Groͤße der wuͤrkenden Ur-
ſachen, das Fundament, worauf ſie ſich ſtuͤtzen,
deutlich vor Augen geſtellt werde. Große Dinge
ruͤhren uns entweder durch den Erfolg ſelbſt, den
ſie haben, oder durch die Kraft wodurch er hervor-
gebracht worden. Daß Leonidas mit ſeiner klei-
nen Schaar bey Thermopylaͤ von einem unermeßli-
chen Heer Feinde niedergemacht worden, hat in dem
Erfolg ſelbſt nichts wunderbares; aber woher dieſer
kleinen Schaar der Muth gekommen, gegen eine
ſo gar uͤberlegene Macht zu ſtreiten, und ihr eini-
germaaßen den Sieg zweifelhaft zu machen, dieſes
begreiflich zu machen, erfodert Kunſt.

Die groͤßte Handlung, ſelbſt das groͤßte Wun-
derwerk, reizt unſre Aufmerkſamkeit nur in ſo fern
wir die Schwierigkeit derſelben einſehen, oder den
Erfolg mit den Kraͤften vergleichen koͤnnen. Die
aͤuſſerſte Freygaͤbigkeit eines Menſchen, den wir
fuͤr einen Goldmacher hielten, wuͤrde uns gar nicht
merkwuͤrdig ſcheinen. Aber eine große Freygaͤbig-
keit an einem Menſchen, den wir nicht in Ueberflus
glauben, wird uns intreſſant, wir wollen wiſſen,
wie er zu ſolchen Entſchluͤſſen komme, die ihm na-
tuͤrlicher Weiſe ſehr viel koſten muͤſſen.

Bey Charakteren und Handlungen der Menſchen,
iſt es nicht hinlaͤnglich, daß man ſie uns als groß
vorſtellt; man muß uns ihre Groͤße begreiflich ma-
chen, man muß uns ihre Kraͤfte und das Funda-
ment, worauf ſie ſich ſtuͤtzen, ſehen laſſen, damit
wir wenigſtens einigermaaßen begreifen, wie ſie zu
der Hoͤhe, die wir bewundern, aufgeſchwollen ſind.
Dieſes macht den Knoten aus, der uns die Sachen
intereſſant vorſtellt.

Er entſteht insgemein aus einem Streit der Lei-
denſchaften, oder dem Zuſammenſtoß entgegenſtrei-
tender Jntereſſen.

Von dieſer Art iſt der Hauptknoten in der Jlias.
Es iſt eine gemeine Sache, daß zwey Beſehlshaber
bey einem Heer ſich entzweyen, und daß uͤble Fol-
gen daraus entſtehen. Oder, wenn man ſich die
[Spaltenumbruch]

Kno
Sache ſo vorſtellen will: es war in der Begebenheit,
daß Achilles und Agamemnon ſich entzweyt haben,
daß der erſtere ſich von dem Heer getrennt, daß da-
durch die Griechen in Verlegenheit gekommen; daß
Achilles zuletzt ſich wieder ins Schlachtfeld begeben
hat u. ſ. f. nichts Auſſerordentliches: aber der Dich-
ter hat dieſe Begebenheit von gemeiner Art ſo zu
behandlen gewußt, daß dadurch eine auſſerordent-
liche Verwiklung der Sachen entſteht. Von dieſer
Art iſt auch der Hauptknoten in Geßners Tod Abels.
Ein Bruder bringt den andern aus Haß um; hier
ſcheinet keine Verwiklung zu ſeyn. Aber wodurch
konnte Kain, zu einer ſolchen Wuth des Haſſes ge-
bracht werden? Hier entſteht ein Knoten. Der
Dichter mußte hinlaͤngliche Urſachen finden, den
Haß des Moͤrders nach und nach anſchwellen und
bis zu dem entſetzlichſten Uebermaas wachſen zu laſ-
ſen, der die Wuͤrkung deſſelben begreiflich macht.
Das groͤßte Beyſpiel eines Knotens von dieſer Art,
iſt Klopſtoks Behandlung des Todes Jeſu. Es iſt
eine gemeine Sache, daß ein Menſch unter dem
Haſſe ſeiner Feinde erliegt und unſchuldiger Weiſe
hingerichtet wird. Hier war die Schwierigkeit
nicht in der Bewuͤrkung des Ausganges der Hand-
lung, ſondern darin, daß eine gemein ſcheinende
Sache, als die groͤßte und wichtigſte aller Begeben-
heit, an der das ganze Reich der Geiſter Antheil
nihmt, vorgeſtellt wuͤrde.

Bey Unterſuchungen und andern Gegenſtaͤnden
des Lehrgedichts und der Beredſamkeit hat ebenfalls
dieſe doppelte Art des Knotens ſtatt. Entweder
liegen Schwierigkeiten weſentlich in der Sache ſelbſt
und der Redner oder Dichter hat blos darauf zu ſe-
hen, daß er ſie deutlich vorſtelle; oder die Sache
iſt an ſich zwar leicht und offenbar genug, aber um
die Aufmerkſamkeit mehr zu reizen, muß ſie durch
das Genio des Redners in einem ſehr wichtigen
und intreſſanten Lichte vorgeſtellt werden. Der letz-
tere Fall hat oft große Schwierigkeiten, und erfodert
einem Mann von viel Genie. Man kann z. B.
vorausſetzen, daß bey der dritten Philippiſchen Rede
des Cicero jeder Zuhoͤrer ſchon einen Abſcheu vor
dem Antonius habe und geneigt ſey, ihn fuͤr einen
Feind des Staats zu erklaͤren. Jn ſolchen Umſtaͤn-
den muß der Redner den Vorſtellungen ſchlechter-
dings eine neue Wendung geben, und darin einen
Knoten, oder eine Aufhaltung ſuchen, daß er ſeinen
Gegenſtand in einem noch nicht bemerkten Lichte

zei-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0033" n="598"/>
          <cb/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Kno</hi> </fw><lb/>
          <p>Je gro&#x0364;ßer der Dichter die&#x017F;e Schwierigkeiten zu ma-<lb/>
chen weiß, je mehr Gelegenheit hat er die Frucht-<lb/>
barkeit &#x017F;eines Gei&#x017F;tes und die Gro&#x0364;ße &#x017F;eines Herzens<lb/>
zu zeigen. Hier liegt al&#x017F;o die Schwierigkeit in der<lb/>
Bewu&#x0364;rkung des Ausganges.</p><lb/>
          <p>Es giebt noch eine andre Art des Knotens, der<lb/>
nicht von Hinterni&#x017F;&#x017F;en ent&#x017F;teht, die &#x017F;ich einer Hand-<lb/>
lung in Weg legen, &#x017F;ondern wo die Schwierigkeit<lb/>
darin liegt, daß uns die Gro&#x0364;ße der wu&#x0364;rkenden Ur-<lb/>
&#x017F;achen, das Fundament, worauf &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;tu&#x0364;tzen,<lb/>
deutlich vor Augen ge&#x017F;tellt werde. Große Dinge<lb/>
ru&#x0364;hren uns entweder durch den Erfolg &#x017F;elb&#x017F;t, den<lb/>
&#x017F;ie haben, oder durch die Kraft wodurch er hervor-<lb/>
gebracht worden. Daß Leonidas mit &#x017F;einer klei-<lb/>
nen Schaar bey Thermopyla&#x0364; von einem unermeßli-<lb/>
chen Heer Feinde niedergemacht worden, hat in dem<lb/>
Erfolg &#x017F;elb&#x017F;t nichts wunderbares; aber woher die&#x017F;er<lb/>
kleinen Schaar der Muth gekommen, gegen eine<lb/>
&#x017F;o gar u&#x0364;berlegene Macht zu &#x017F;treiten, und ihr eini-<lb/>
germaaßen den Sieg zweifelhaft zu machen, die&#x017F;es<lb/>
begreiflich zu machen, erfodert Kun&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Die gro&#x0364;ßte Handlung, &#x017F;elb&#x017F;t das gro&#x0364;ßte Wun-<lb/>
derwerk, reizt un&#x017F;re Aufmerk&#x017F;amkeit nur in &#x017F;o fern<lb/>
wir die Schwierigkeit der&#x017F;elben ein&#x017F;ehen, oder den<lb/>
Erfolg mit den Kra&#x0364;ften vergleichen ko&#x0364;nnen. Die<lb/>
a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;er&#x017F;te Freyga&#x0364;bigkeit eines Men&#x017F;chen, den wir<lb/>
fu&#x0364;r einen Goldmacher hielten, wu&#x0364;rde uns gar nicht<lb/>
merkwu&#x0364;rdig &#x017F;cheinen. Aber eine große Freyga&#x0364;big-<lb/>
keit an einem Men&#x017F;chen, den wir nicht in Ueberflus<lb/>
glauben, wird uns intre&#x017F;&#x017F;ant, wir wollen wi&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
wie er zu &#x017F;olchen Ent&#x017F;chlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en komme, die ihm na-<lb/>
tu&#x0364;rlicher Wei&#x017F;e &#x017F;ehr viel ko&#x017F;ten mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Bey Charakteren und Handlungen der Men&#x017F;chen,<lb/>
i&#x017F;t es nicht hinla&#x0364;nglich, daß man &#x017F;ie uns als groß<lb/>
vor&#x017F;tellt; man muß uns ihre Gro&#x0364;ße begreiflich ma-<lb/>
chen, man muß uns ihre Kra&#x0364;fte und das Funda-<lb/>
ment, worauf &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;tu&#x0364;tzen, &#x017F;ehen la&#x017F;&#x017F;en, damit<lb/>
wir wenig&#x017F;tens einigermaaßen begreifen, wie &#x017F;ie zu<lb/>
der Ho&#x0364;he, die wir bewundern, aufge&#x017F;chwollen &#x017F;ind.<lb/>
Die&#x017F;es macht den Knoten aus, der uns die Sachen<lb/>
intere&#x017F;&#x017F;ant vor&#x017F;tellt.</p><lb/>
          <p>Er ent&#x017F;teht insgemein aus einem Streit der Lei-<lb/>
den&#x017F;chaften, oder dem Zu&#x017F;ammen&#x017F;toß entgegen&#x017F;trei-<lb/>
tender Jntere&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
          <p>Von die&#x017F;er Art i&#x017F;t der Hauptknoten in der Jlias.<lb/>
Es i&#x017F;t eine gemeine Sache, daß zwey Be&#x017F;ehlshaber<lb/>
bey einem Heer &#x017F;ich entzweyen, und daß u&#x0364;ble Fol-<lb/>
gen daraus ent&#x017F;tehen. Oder, wenn man &#x017F;ich die<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Kno</hi></fw><lb/>
Sache &#x017F;o vor&#x017F;tellen will: es war in der Begebenheit,<lb/>
daß Achilles und Agamemnon &#x017F;ich entzweyt haben,<lb/>
daß der er&#x017F;tere &#x017F;ich von dem Heer getrennt, daß da-<lb/>
durch die Griechen in Verlegenheit gekommen; daß<lb/>
Achilles zuletzt &#x017F;ich wieder ins Schlachtfeld begeben<lb/>
hat u. &#x017F;. f. nichts Au&#x017F;&#x017F;erordentliches: aber der Dich-<lb/>
ter hat die&#x017F;e Begebenheit von gemeiner Art &#x017F;o zu<lb/>
behandlen gewußt, daß dadurch eine au&#x017F;&#x017F;erordent-<lb/>
liche Verwiklung der Sachen ent&#x017F;teht. Von die&#x017F;er<lb/>
Art i&#x017F;t auch der Hauptknoten in Geßners Tod Abels.<lb/>
Ein Bruder bringt den andern aus Haß um; hier<lb/>
&#x017F;cheinet keine Verwiklung zu &#x017F;eyn. Aber wodurch<lb/>
konnte Kain, zu einer &#x017F;olchen Wuth des Ha&#x017F;&#x017F;es ge-<lb/>
bracht werden? Hier ent&#x017F;teht ein Knoten. Der<lb/>
Dichter mußte hinla&#x0364;ngliche Ur&#x017F;achen finden, den<lb/>
Haß des Mo&#x0364;rders nach und nach an&#x017F;chwellen und<lb/>
bis zu dem ent&#x017F;etzlich&#x017F;ten Uebermaas wach&#x017F;en zu la&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, der die Wu&#x0364;rkung de&#x017F;&#x017F;elben begreiflich macht.<lb/>
Das gro&#x0364;ßte Bey&#x017F;piel eines Knotens von die&#x017F;er Art,<lb/>
i&#x017F;t Klop&#x017F;toks Behandlung des Todes Je&#x017F;u. Es i&#x017F;t<lb/>
eine gemeine Sache, daß ein Men&#x017F;ch unter dem<lb/>
Ha&#x017F;&#x017F;e &#x017F;einer Feinde erliegt und un&#x017F;chuldiger Wei&#x017F;e<lb/>
hingerichtet wird. Hier war die Schwierigkeit<lb/>
nicht in der Bewu&#x0364;rkung des Ausganges der Hand-<lb/>
lung, &#x017F;ondern darin, daß eine gemein &#x017F;cheinende<lb/>
Sache, als die gro&#x0364;ßte und wichtig&#x017F;te aller Begeben-<lb/>
heit, an der das ganze Reich der Gei&#x017F;ter Antheil<lb/>
nihmt, vorge&#x017F;tellt wu&#x0364;rde.</p><lb/>
          <p>Bey Unter&#x017F;uchungen und andern Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden<lb/>
des Lehrgedichts und der Bered&#x017F;amkeit hat ebenfalls<lb/>
die&#x017F;e doppelte Art des Knotens &#x017F;tatt. Entweder<lb/>
liegen Schwierigkeiten we&#x017F;entlich in der Sache &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
und der Redner oder Dichter hat blos darauf zu &#x017F;e-<lb/>
hen, daß er &#x017F;ie deutlich vor&#x017F;telle; oder die Sache<lb/>
i&#x017F;t an &#x017F;ich zwar leicht und offenbar genug, aber um<lb/>
die Aufmerk&#x017F;amkeit mehr zu reizen, muß &#x017F;ie durch<lb/>
das Genio des Redners in einem &#x017F;ehr wichtigen<lb/>
und intre&#x017F;&#x017F;anten Lichte vorge&#x017F;tellt werden. Der letz-<lb/>
tere Fall hat oft große Schwierigkeiten, und erfodert<lb/>
einem Mann von viel Genie. Man kann z. B.<lb/>
voraus&#x017F;etzen, daß bey der dritten Philippi&#x017F;chen Rede<lb/>
des Cicero jeder Zuho&#x0364;rer &#x017F;chon einen Ab&#x017F;cheu vor<lb/>
dem Antonius habe und geneigt &#x017F;ey, ihn fu&#x0364;r einen<lb/>
Feind des Staats zu erkla&#x0364;ren. Jn &#x017F;olchen Um&#x017F;ta&#x0364;n-<lb/>
den muß der Redner den Vor&#x017F;tellungen &#x017F;chlechter-<lb/>
dings eine neue Wendung geben, und darin einen<lb/>
Knoten, oder eine Aufhaltung &#x017F;uchen, daß er &#x017F;einen<lb/>
Gegen&#x017F;tand in einem noch nicht bemerkten Lichte<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">zei-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[598/0033] Kno Kno Je groͤßer der Dichter dieſe Schwierigkeiten zu ma- chen weiß, je mehr Gelegenheit hat er die Frucht- barkeit ſeines Geiſtes und die Groͤße ſeines Herzens zu zeigen. Hier liegt alſo die Schwierigkeit in der Bewuͤrkung des Ausganges. Es giebt noch eine andre Art des Knotens, der nicht von Hinterniſſen entſteht, die ſich einer Hand- lung in Weg legen, ſondern wo die Schwierigkeit darin liegt, daß uns die Groͤße der wuͤrkenden Ur- ſachen, das Fundament, worauf ſie ſich ſtuͤtzen, deutlich vor Augen geſtellt werde. Große Dinge ruͤhren uns entweder durch den Erfolg ſelbſt, den ſie haben, oder durch die Kraft wodurch er hervor- gebracht worden. Daß Leonidas mit ſeiner klei- nen Schaar bey Thermopylaͤ von einem unermeßli- chen Heer Feinde niedergemacht worden, hat in dem Erfolg ſelbſt nichts wunderbares; aber woher dieſer kleinen Schaar der Muth gekommen, gegen eine ſo gar uͤberlegene Macht zu ſtreiten, und ihr eini- germaaßen den Sieg zweifelhaft zu machen, dieſes begreiflich zu machen, erfodert Kunſt. Die groͤßte Handlung, ſelbſt das groͤßte Wun- derwerk, reizt unſre Aufmerkſamkeit nur in ſo fern wir die Schwierigkeit derſelben einſehen, oder den Erfolg mit den Kraͤften vergleichen koͤnnen. Die aͤuſſerſte Freygaͤbigkeit eines Menſchen, den wir fuͤr einen Goldmacher hielten, wuͤrde uns gar nicht merkwuͤrdig ſcheinen. Aber eine große Freygaͤbig- keit an einem Menſchen, den wir nicht in Ueberflus glauben, wird uns intreſſant, wir wollen wiſſen, wie er zu ſolchen Entſchluͤſſen komme, die ihm na- tuͤrlicher Weiſe ſehr viel koſten muͤſſen. Bey Charakteren und Handlungen der Menſchen, iſt es nicht hinlaͤnglich, daß man ſie uns als groß vorſtellt; man muß uns ihre Groͤße begreiflich ma- chen, man muß uns ihre Kraͤfte und das Funda- ment, worauf ſie ſich ſtuͤtzen, ſehen laſſen, damit wir wenigſtens einigermaaßen begreifen, wie ſie zu der Hoͤhe, die wir bewundern, aufgeſchwollen ſind. Dieſes macht den Knoten aus, der uns die Sachen intereſſant vorſtellt. Er entſteht insgemein aus einem Streit der Lei- denſchaften, oder dem Zuſammenſtoß entgegenſtrei- tender Jntereſſen. Von dieſer Art iſt der Hauptknoten in der Jlias. Es iſt eine gemeine Sache, daß zwey Beſehlshaber bey einem Heer ſich entzweyen, und daß uͤble Fol- gen daraus entſtehen. Oder, wenn man ſich die Sache ſo vorſtellen will: es war in der Begebenheit, daß Achilles und Agamemnon ſich entzweyt haben, daß der erſtere ſich von dem Heer getrennt, daß da- durch die Griechen in Verlegenheit gekommen; daß Achilles zuletzt ſich wieder ins Schlachtfeld begeben hat u. ſ. f. nichts Auſſerordentliches: aber der Dich- ter hat dieſe Begebenheit von gemeiner Art ſo zu behandlen gewußt, daß dadurch eine auſſerordent- liche Verwiklung der Sachen entſteht. Von dieſer Art iſt auch der Hauptknoten in Geßners Tod Abels. Ein Bruder bringt den andern aus Haß um; hier ſcheinet keine Verwiklung zu ſeyn. Aber wodurch konnte Kain, zu einer ſolchen Wuth des Haſſes ge- bracht werden? Hier entſteht ein Knoten. Der Dichter mußte hinlaͤngliche Urſachen finden, den Haß des Moͤrders nach und nach anſchwellen und bis zu dem entſetzlichſten Uebermaas wachſen zu laſ- ſen, der die Wuͤrkung deſſelben begreiflich macht. Das groͤßte Beyſpiel eines Knotens von dieſer Art, iſt Klopſtoks Behandlung des Todes Jeſu. Es iſt eine gemeine Sache, daß ein Menſch unter dem Haſſe ſeiner Feinde erliegt und unſchuldiger Weiſe hingerichtet wird. Hier war die Schwierigkeit nicht in der Bewuͤrkung des Ausganges der Hand- lung, ſondern darin, daß eine gemein ſcheinende Sache, als die groͤßte und wichtigſte aller Begeben- heit, an der das ganze Reich der Geiſter Antheil nihmt, vorgeſtellt wuͤrde. Bey Unterſuchungen und andern Gegenſtaͤnden des Lehrgedichts und der Beredſamkeit hat ebenfalls dieſe doppelte Art des Knotens ſtatt. Entweder liegen Schwierigkeiten weſentlich in der Sache ſelbſt und der Redner oder Dichter hat blos darauf zu ſe- hen, daß er ſie deutlich vorſtelle; oder die Sache iſt an ſich zwar leicht und offenbar genug, aber um die Aufmerkſamkeit mehr zu reizen, muß ſie durch das Genio des Redners in einem ſehr wichtigen und intreſſanten Lichte vorgeſtellt werden. Der letz- tere Fall hat oft große Schwierigkeiten, und erfodert einem Mann von viel Genie. Man kann z. B. vorausſetzen, daß bey der dritten Philippiſchen Rede des Cicero jeder Zuhoͤrer ſchon einen Abſcheu vor dem Antonius habe und geneigt ſey, ihn fuͤr einen Feind des Staats zu erklaͤren. Jn ſolchen Umſtaͤn- den muß der Redner den Vorſtellungen ſchlechter- dings eine neue Wendung geben, und darin einen Knoten, oder eine Aufhaltung ſuchen, daß er ſeinen Gegenſtand in einem noch nicht bemerkten Lichte zei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/33
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 598. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/33>, abgerufen am 28.03.2024.