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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Kla
hinzusetzen. Nur die hellesten Köpfe können gute
Künstler seyn; die sich bey jeder nur einigermaaßen
wichtigen Vorstellung verweilen, um sie bestimmt,
und in völligem Lichte zu fassen. Jeder Mensch
von einigem Genie, und ein wahrer Künstler mehr,
als andre, beobachtet alles, was ihm vorkommt,
wird mehr oder weniger davon gerührt, macht seine
Betrachtungen darüber. Der große Hause, der
sich von seinen eigenen Vorstellungen, oder Em-
pfindungen nie Rechenschaft giebt, überläßt sich
dabey dem zufälligen Genuß dessen, das ihm vor-
kommt: aber der nachdenkende Mensch will wenig-
stens das Vornehmste davon genau bemerken; er
verweilet dabey, frägt sich selbst, was das ist, das
er sieht; wohin das ziehlt, was er denkt; woher
das kommt, was er empfindet. Daraus entsteht
die Bemühung alles klar zu sehen; er verläßt keine
Vorstellung eher, bis er sie genau gefaßt hat.
Scheinet sie ihm wichtig, so giebt er sich die Mühe
länger dabey zu verweilen, sie von mehrern Seiten
zu betrachten; sie zu bearbeiten, und ruhet nicht
eher, bis er sie in der höchsten Klarheit und Einfalt
gefaßt hat.

Wer so mit seinen eigenen Gedanken verfährt,
der bekommt das Licht in seine Seele, ohne welches
er andere nicht erleuchten kann. Das größte Genie
ist hiezu nicht hinlänglich, wenn es nicht vorzüglich
mit dem, was man im engsten Sinne Verstand
und Urtheilskraft nennt, verbunden ist. Ohne
lang anhaltende Uebung entwikeln sich die Anlagen,
die man von Natur dazu bekommen hat, nicht.
Darum ist die Erlernung der Wissenschaften, oder
in Ermanglung dessen, ein beständiger Umgang
mit den hellesten Köpfen, für den Künftler eine
höchstwichtige Sache. Der Berstand ist von allen
Eigenschaften der Seele unstreitig der, welche sich
am langsamsten entwikelt. Darum kann man
nicht zu viel dafür thun. Der größte Theil der
Menschen behilft sich Lebenslang mit confusen Vor-
stellungen.

Hat der Künstler sich selbst klarer Vorstellungen
versichert, ist er sich dessen, was er zeichnen, oder
auf andre Weise vorbringen will, in dem Maaße be-
wußt, daß er sagen kann, was er eigentlich vorstel-
len soll, zu welcher Art der Dinge es gehöret, und
was es damit auszurichten gedenket; alsdenn kann
er auf den Ausdruk und die richtige Zeichnung der
Sache denken.

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Dieses kann keine große Schwierigkeit mehr ha-
ben, nachdem man einmal auf das bestimmteste
weiß, was man sagen oder vorstellen will. Doch
muß jede einzele zusammengesezte Vorstellung mit
eben der Vorsicht behandelt werden, wie das Ganze.
Man sieht Gemählde von Holländischen Meistern,
wo nicht nur jede Gruppe, sondern jede Figur,
auch wol jeder einzele Theil einer Figur in Zeichnung,
Perspektiv, Haltung und Colorit eben so vollkom-
men, als ein ganzes Gemählde behandelt worden.
Dadurch bekommen solche Gemählde auch in den
kleinesten Theilen die höchste Klarheit. So muß
man auch in andern Künsten verfahren. Der Red-
ner muß jede einzele Periode besonders bearbeiten,
so wie die ganze Rede; nur mit dem Unterschied,
daß das Einzele nicht die höchste absolute Klarheit,
sondern den Grad derselben haben muß, der sich
für den Ort und die Stelle und die Wichtigkeit der
Sache schiket. Nach diesen Verhältnissen, muß
das, was man zu sagen hat, durch mehr oder we-
niger allgemeine, oder durch mehr oder weniger
besondere individuelle Begriffe ausgedrükt werden.
Je allgemeiner die Begriffe und Ausdrüke sind, je
weniger relative Klarheit bekommt der Gedanken,
und der besonderste Ausdruk, der blos auf einen
einzelen Fall zu gehen scheinet, hat die höchste rela-
tive Klarheit. So hat, um nur ein Beyspiel zu
geben, die Aesopische Fabel, in so fern sie einen
einzeln Fall erzählt, eine unendlich grössere Klarheit,
als die in allgemeinen Ausdrüken, und durch allge-
meine Begriffe vorgetragene Lehre, die darin ent-
halten ist.

Daraus folget überhaupt, daß der richtige Grad
der relativen Klarheit erst alsdenn erhalten wird,
wenn nach Maaßgebung des Lichts, darin eine
Vorstellung stehen soll, mehr oder weniger all-
gemeine Begriffe und Ausdrüke zur Vorstellung der
Sache gebraucht werden. Wenn man z. B. sagt,
daß die Zeit die Trauer über einen verstorbenen
Gemahl lindert,
so hat der Gedanken, weil er in
allgemeinen Ausdrüken abgefaßt ist, fehr viel weni-
ger relative Klarheit, als wenn man mit La Fon-
taine sagt:

Entre la veuve d'une annee
Et la veuve d'une journee
La difference est grande.
(*)

Und wenn man sagt; nach einiger Zeit der Trauer,
haben sich die verliebtern Vorstellungen von aller-

hand
(*) in der
Fabel ia
Jeune Ven-
ve.

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Kla
hinzuſetzen. Nur die helleſten Koͤpfe koͤnnen gute
Kuͤnſtler ſeyn; die ſich bey jeder nur einigermaaßen
wichtigen Vorſtellung verweilen, um ſie beſtimmt,
und in voͤlligem Lichte zu faſſen. Jeder Menſch
von einigem Genie, und ein wahrer Kuͤnſtler mehr,
als andre, beobachtet alles, was ihm vorkommt,
wird mehr oder weniger davon geruͤhrt, macht ſeine
Betrachtungen daruͤber. Der große Hauſe, der
ſich von ſeinen eigenen Vorſtellungen, oder Em-
pfindungen nie Rechenſchaft giebt, uͤberlaͤßt ſich
dabey dem zufaͤlligen Genuß deſſen, das ihm vor-
kommt: aber der nachdenkende Menſch will wenig-
ſtens das Vornehmſte davon genau bemerken; er
verweilet dabey, fraͤgt ſich ſelbſt, was das iſt, das
er ſieht; wohin das ziehlt, was er denkt; woher
das kommt, was er empfindet. Daraus entſteht
die Bemuͤhung alles klar zu ſehen; er verlaͤßt keine
Vorſtellung eher, bis er ſie genau gefaßt hat.
Scheinet ſie ihm wichtig, ſo giebt er ſich die Muͤhe
laͤnger dabey zu verweilen, ſie von mehrern Seiten
zu betrachten; ſie zu bearbeiten, und ruhet nicht
eher, bis er ſie in der hoͤchſten Klarheit und Einfalt
gefaßt hat.

Wer ſo mit ſeinen eigenen Gedanken verfaͤhrt,
der bekommt das Licht in ſeine Seele, ohne welches
er andere nicht erleuchten kann. Das groͤßte Genie
iſt hiezu nicht hinlaͤnglich, wenn es nicht vorzuͤglich
mit dem, was man im engſten Sinne Verſtand
und Urtheilskraft nennt, verbunden iſt. Ohne
lang anhaltende Uebung entwikeln ſich die Anlagen,
die man von Natur dazu bekommen hat, nicht.
Darum iſt die Erlernung der Wiſſenſchaften, oder
in Ermanglung deſſen, ein beſtaͤndiger Umgang
mit den helleſten Koͤpfen, fuͤr den Kuͤnftler eine
hoͤchſtwichtige Sache. Der Berſtand iſt von allen
Eigenſchaften der Seele unſtreitig der, welche ſich
am langſamſten entwikelt. Darum kann man
nicht zu viel dafuͤr thun. Der groͤßte Theil der
Menſchen behilft ſich Lebenslang mit confuſen Vor-
ſtellungen.

Hat der Kuͤnſtler ſich ſelbſt klarer Vorſtellungen
verſichert, iſt er ſich deſſen, was er zeichnen, oder
auf andre Weiſe vorbringen will, in dem Maaße be-
wußt, daß er ſagen kann, was er eigentlich vorſtel-
len ſoll, zu welcher Art der Dinge es gehoͤret, und
was es damit auszurichten gedenket; alsdenn kann
er auf den Ausdruk und die richtige Zeichnung der
Sache denken.

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Dieſes kann keine große Schwierigkeit mehr ha-
ben, nachdem man einmal auf das beſtimmteſte
weiß, was man ſagen oder vorſtellen will. Doch
muß jede einzele zuſammengeſezte Vorſtellung mit
eben der Vorſicht behandelt werden, wie das Ganze.
Man ſieht Gemaͤhlde von Hollaͤndiſchen Meiſtern,
wo nicht nur jede Gruppe, ſondern jede Figur,
auch wol jeder einzele Theil einer Figur in Zeichnung,
Perſpektiv, Haltung und Colorit eben ſo vollkom-
men, als ein ganzes Gemaͤhlde behandelt worden.
Dadurch bekommen ſolche Gemaͤhlde auch in den
kleineſten Theilen die hoͤchſte Klarheit. So muß
man auch in andern Kuͤnſten verfahren. Der Red-
ner muß jede einzele Periode beſonders bearbeiten,
ſo wie die ganze Rede; nur mit dem Unterſchied,
daß das Einzele nicht die hoͤchſte abſolute Klarheit,
ſondern den Grad derſelben haben muß, der ſich
fuͤr den Ort und die Stelle und die Wichtigkeit der
Sache ſchiket. Nach dieſen Verhaͤltniſſen, muß
das, was man zu ſagen hat, durch mehr oder we-
niger allgemeine, oder durch mehr oder weniger
beſondere individuelle Begriffe ausgedruͤkt werden.
Je allgemeiner die Begriffe und Ausdruͤke ſind, je
weniger relative Klarheit bekommt der Gedanken,
und der beſonderſte Ausdruk, der blos auf einen
einzelen Fall zu gehen ſcheinet, hat die hoͤchſte rela-
tive Klarheit. So hat, um nur ein Beyſpiel zu
geben, die Aeſopiſche Fabel, in ſo fern ſie einen
einzeln Fall erzaͤhlt, eine unendlich groͤſſere Klarheit,
als die in allgemeinen Ausdruͤken, und durch allge-
meine Begriffe vorgetragene Lehre, die darin ent-
halten iſt.

Daraus folget uͤberhaupt, daß der richtige Grad
der relativen Klarheit erſt alsdenn erhalten wird,
wenn nach Maaßgebung des Lichts, darin eine
Vorſtellung ſtehen ſoll, mehr oder weniger all-
gemeine Begriffe und Ausdruͤke zur Vorſtellung der
Sache gebraucht werden. Wenn man z. B. ſagt,
daß die Zeit die Trauer uͤber einen verſtorbenen
Gemahl lindert,
ſo hat der Gedanken, weil er in
allgemeinen Ausdruͤken abgefaßt iſt, fehr viel weni-
ger relative Klarheit, als wenn man mit La Fon-
taine ſagt:

Entre la veuve d’une année
Et la veuve d’une journée
La difference eſt grande.
(*)

Und wenn man ſagt; nach einiger Zeit der Trauer,
haben ſich die verliebtern Vorſtellungen von aller-

hand
(*) in der
Fabel ia
Jeune Ven-
ve.
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[591/0026] Kla Kla hinzuſetzen. Nur die helleſten Koͤpfe koͤnnen gute Kuͤnſtler ſeyn; die ſich bey jeder nur einigermaaßen wichtigen Vorſtellung verweilen, um ſie beſtimmt, und in voͤlligem Lichte zu faſſen. Jeder Menſch von einigem Genie, und ein wahrer Kuͤnſtler mehr, als andre, beobachtet alles, was ihm vorkommt, wird mehr oder weniger davon geruͤhrt, macht ſeine Betrachtungen daruͤber. Der große Hauſe, der ſich von ſeinen eigenen Vorſtellungen, oder Em- pfindungen nie Rechenſchaft giebt, uͤberlaͤßt ſich dabey dem zufaͤlligen Genuß deſſen, das ihm vor- kommt: aber der nachdenkende Menſch will wenig- ſtens das Vornehmſte davon genau bemerken; er verweilet dabey, fraͤgt ſich ſelbſt, was das iſt, das er ſieht; wohin das ziehlt, was er denkt; woher das kommt, was er empfindet. Daraus entſteht die Bemuͤhung alles klar zu ſehen; er verlaͤßt keine Vorſtellung eher, bis er ſie genau gefaßt hat. Scheinet ſie ihm wichtig, ſo giebt er ſich die Muͤhe laͤnger dabey zu verweilen, ſie von mehrern Seiten zu betrachten; ſie zu bearbeiten, und ruhet nicht eher, bis er ſie in der hoͤchſten Klarheit und Einfalt gefaßt hat. Wer ſo mit ſeinen eigenen Gedanken verfaͤhrt, der bekommt das Licht in ſeine Seele, ohne welches er andere nicht erleuchten kann. Das groͤßte Genie iſt hiezu nicht hinlaͤnglich, wenn es nicht vorzuͤglich mit dem, was man im engſten Sinne Verſtand und Urtheilskraft nennt, verbunden iſt. Ohne lang anhaltende Uebung entwikeln ſich die Anlagen, die man von Natur dazu bekommen hat, nicht. Darum iſt die Erlernung der Wiſſenſchaften, oder in Ermanglung deſſen, ein beſtaͤndiger Umgang mit den helleſten Koͤpfen, fuͤr den Kuͤnftler eine hoͤchſtwichtige Sache. Der Berſtand iſt von allen Eigenſchaften der Seele unſtreitig der, welche ſich am langſamſten entwikelt. Darum kann man nicht zu viel dafuͤr thun. Der groͤßte Theil der Menſchen behilft ſich Lebenslang mit confuſen Vor- ſtellungen. Hat der Kuͤnſtler ſich ſelbſt klarer Vorſtellungen verſichert, iſt er ſich deſſen, was er zeichnen, oder auf andre Weiſe vorbringen will, in dem Maaße be- wußt, daß er ſagen kann, was er eigentlich vorſtel- len ſoll, zu welcher Art der Dinge es gehoͤret, und was es damit auszurichten gedenket; alsdenn kann er auf den Ausdruk und die richtige Zeichnung der Sache denken. Dieſes kann keine große Schwierigkeit mehr ha- ben, nachdem man einmal auf das beſtimmteſte weiß, was man ſagen oder vorſtellen will. Doch muß jede einzele zuſammengeſezte Vorſtellung mit eben der Vorſicht behandelt werden, wie das Ganze. Man ſieht Gemaͤhlde von Hollaͤndiſchen Meiſtern, wo nicht nur jede Gruppe, ſondern jede Figur, auch wol jeder einzele Theil einer Figur in Zeichnung, Perſpektiv, Haltung und Colorit eben ſo vollkom- men, als ein ganzes Gemaͤhlde behandelt worden. Dadurch bekommen ſolche Gemaͤhlde auch in den kleineſten Theilen die hoͤchſte Klarheit. So muß man auch in andern Kuͤnſten verfahren. Der Red- ner muß jede einzele Periode beſonders bearbeiten, ſo wie die ganze Rede; nur mit dem Unterſchied, daß das Einzele nicht die hoͤchſte abſolute Klarheit, ſondern den Grad derſelben haben muß, der ſich fuͤr den Ort und die Stelle und die Wichtigkeit der Sache ſchiket. Nach dieſen Verhaͤltniſſen, muß das, was man zu ſagen hat, durch mehr oder we- niger allgemeine, oder durch mehr oder weniger beſondere individuelle Begriffe ausgedruͤkt werden. Je allgemeiner die Begriffe und Ausdruͤke ſind, je weniger relative Klarheit bekommt der Gedanken, und der beſonderſte Ausdruk, der blos auf einen einzelen Fall zu gehen ſcheinet, hat die hoͤchſte rela- tive Klarheit. So hat, um nur ein Beyſpiel zu geben, die Aeſopiſche Fabel, in ſo fern ſie einen einzeln Fall erzaͤhlt, eine unendlich groͤſſere Klarheit, als die in allgemeinen Ausdruͤken, und durch allge- meine Begriffe vorgetragene Lehre, die darin ent- halten iſt. Daraus folget uͤberhaupt, daß der richtige Grad der relativen Klarheit erſt alsdenn erhalten wird, wenn nach Maaßgebung des Lichts, darin eine Vorſtellung ſtehen ſoll, mehr oder weniger all- gemeine Begriffe und Ausdruͤke zur Vorſtellung der Sache gebraucht werden. Wenn man z. B. ſagt, daß die Zeit die Trauer uͤber einen verſtorbenen Gemahl lindert, ſo hat der Gedanken, weil er in allgemeinen Ausdruͤken abgefaßt iſt, fehr viel weni- ger relative Klarheit, als wenn man mit La Fon- taine ſagt: Entre la veuve d’une année Et la veuve d’une journée La difference eſt grande. (*) Und wenn man ſagt; nach einiger Zeit der Trauer, haben ſich die verliebtern Vorſtellungen von aller- hand (*) in der Fabel ia Jeune Ven- ve.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 591. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie02_1774/26>, abgerufen am 25.04.2024.