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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780.

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Tagebuch von einer nach Nizza
ist, und daß der König auf der andern Seite der Land-
straße geblieben.

Weißenfels.

Weißenfels ist eine artige kleine Stadt, die
aber, seitdem kein Hof mehr da ist, an ihrer Nah-
rung viel verloren hat. Das Schloß ist ein großes
und feines Gebäude, das aber jetzt zerfällt, weil auf
die Unterhaltung desselben nicht das Geringste verwen-
det wird. Dies ist der Fall von noch mehr andern
schönen Gebäuden, die vor nicht langer Zeit abgefun-
denen Fürsten von Nebenlinien der regierenden Häu-
ser zum Aufenthalte dienten. Es scheinet mir nicht
wohl gethan, daß gegenwärtig fast durchgehends in
ganz Europa die nächsten Anverwandten der regieren-
den großen Herren sich an dem Hofe des regierenden
Fürsten aufhalten müssen. Dadurch werden zwar die
Hauptstädte prächtig und ihre Bürger reich; aber die
Provinzstädte leiden darunter. Würden die abgefun-
denen Prinzen in die Provinzstädte gesetzt, zumal in
solche, da schon anständige Paläste zu ihrem Hofstaat
gebauet sind: so würde ihr Aufenthalt daselbst den
Städten mehr Nahrung geben; der herumliegende
Adel genösse mehr Annehmlichkeit; unter den gemei-
nen Bürger käme mehr Cultur, und alle Künste wür-
den dadurch im Lande mehr ausgebreitet. Es fällt
überhaupt in einigen Provinzen von Deutschland sehr
auf, daß man so viele halb verfallene und fast ganz
verarmte kleine Städte antrifft, von deren ehemaligem
Wohlstand doch noch Spuren anzutreffen sind. Die-
ses kommt von mehr als einer Ursache her; die vor-
nehmste aber ist die Vergrößerung der Hauptstädte
und das Zusammendrängen der unternehmendsten Ein-
wohner an den Ort, wo der Hof seine Residenz auf-

geschla-

Tagebuch von einer nach Nizza
iſt, und daß der Koͤnig auf der andern Seite der Land-
ſtraße geblieben.

Weißenfels.

Weißenfels iſt eine artige kleine Stadt, die
aber, ſeitdem kein Hof mehr da iſt, an ihrer Nah-
rung viel verloren hat. Das Schloß iſt ein großes
und feines Gebaͤude, das aber jetzt zerfaͤllt, weil auf
die Unterhaltung deſſelben nicht das Geringſte verwen-
det wird. Dies iſt der Fall von noch mehr andern
ſchoͤnen Gebaͤuden, die vor nicht langer Zeit abgefun-
denen Fuͤrſten von Nebenlinien der regierenden Haͤu-
ſer zum Aufenthalte dienten. Es ſcheinet mir nicht
wohl gethan, daß gegenwaͤrtig faſt durchgehends in
ganz Europa die naͤchſten Anverwandten der regieren-
den großen Herren ſich an dem Hofe des regierenden
Fuͤrſten aufhalten muͤſſen. Dadurch werden zwar die
Hauptſtaͤdte praͤchtig und ihre Buͤrger reich; aber die
Provinzſtaͤdte leiden darunter. Wuͤrden die abgefun-
denen Prinzen in die Provinzſtaͤdte geſetzt, zumal in
ſolche, da ſchon anſtaͤndige Palaͤſte zu ihrem Hofſtaat
gebauet ſind: ſo wuͤrde ihr Aufenthalt daſelbſt den
Staͤdten mehr Nahrung geben; der herumliegende
Adel genoͤſſe mehr Annehmlichkeit; unter den gemei-
nen Buͤrger kaͤme mehr Cultur, und alle Kuͤnſte wuͤr-
den dadurch im Lande mehr ausgebreitet. Es faͤllt
uͤberhaupt in einigen Provinzen von Deutſchland ſehr
auf, daß man ſo viele halb verfallene und faſt ganz
verarmte kleine Staͤdte antrifft, von deren ehemaligem
Wohlſtand doch noch Spuren anzutreffen ſind. Die-
ſes kommt von mehr als einer Urſache her; die vor-
nehmſte aber iſt die Vergroͤßerung der Hauptſtaͤdte
und das Zuſammendraͤngen der unternehmendſten Ein-
wohner an den Ort, wo der Hof ſeine Reſidenz auf-

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[6/0024] Tagebuch von einer nach Nizza iſt, und daß der Koͤnig auf der andern Seite der Land- ſtraße geblieben. Weißenfels iſt eine artige kleine Stadt, die aber, ſeitdem kein Hof mehr da iſt, an ihrer Nah- rung viel verloren hat. Das Schloß iſt ein großes und feines Gebaͤude, das aber jetzt zerfaͤllt, weil auf die Unterhaltung deſſelben nicht das Geringſte verwen- det wird. Dies iſt der Fall von noch mehr andern ſchoͤnen Gebaͤuden, die vor nicht langer Zeit abgefun- denen Fuͤrſten von Nebenlinien der regierenden Haͤu- ſer zum Aufenthalte dienten. Es ſcheinet mir nicht wohl gethan, daß gegenwaͤrtig faſt durchgehends in ganz Europa die naͤchſten Anverwandten der regieren- den großen Herren ſich an dem Hofe des regierenden Fuͤrſten aufhalten muͤſſen. Dadurch werden zwar die Hauptſtaͤdte praͤchtig und ihre Buͤrger reich; aber die Provinzſtaͤdte leiden darunter. Wuͤrden die abgefun- denen Prinzen in die Provinzſtaͤdte geſetzt, zumal in ſolche, da ſchon anſtaͤndige Palaͤſte zu ihrem Hofſtaat gebauet ſind: ſo wuͤrde ihr Aufenthalt daſelbſt den Staͤdten mehr Nahrung geben; der herumliegende Adel genoͤſſe mehr Annehmlichkeit; unter den gemei- nen Buͤrger kaͤme mehr Cultur, und alle Kuͤnſte wuͤr- den dadurch im Lande mehr ausgebreitet. Es faͤllt uͤberhaupt in einigen Provinzen von Deutſchland ſehr auf, daß man ſo viele halb verfallene und faſt ganz verarmte kleine Staͤdte antrifft, von deren ehemaligem Wohlſtand doch noch Spuren anzutreffen ſind. Die- ſes kommt von mehr als einer Urſache her; die vor- nehmſte aber iſt die Vergroͤßerung der Hauptſtaͤdte und das Zuſammendraͤngen der unternehmendſten Ein- wohner an den Ort, wo der Hof ſeine Reſidenz auf- geſchla-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/24>, abgerufen am 23.04.2024.