Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung. §. 7.
macht, dass sie den gröbsten Polytheismus doch zulezt als
blosse symbolische Vorstellung der Eigenschaften des Ei-
nen göttlichen Wesens umzudeuten, und den mancherlei
lasterhaften Handlungen ihrer Götter, den wildesten Träu-
mereien ihrer Dichter einen mystischen Sinn unterzulegen
wussten, um den Volksglauben, welchen zu vertilgen nicht
ersprieslich war, einer moralischen Lehre nahe zu brin-
gen. Auch das spätere Judenthum und selbst das Chri-
stenthum bestehe aus solchen zum Theil sehr gezwunge-
nen Deutungen, übrigens zu ungezweifelt guten und für
alle Menschen nothwendigen Zwecken. Nicht minder
wissen die Muhamedaner den üppigen Beschreibungen ih-
res Paradieses einen geistigen Sinn unterzulegen, und
dasselbe thun die Indier mit ihren Veda's, wenigstens
für den aufgeklärteren Theil ihres Volkes. Ebenso müssen
nun nach Kant die christlichen Religionsurkunden des
A. u. N. T.s durchgängig zu einem Sinn gedeutet werden,
welcher mit den allgemeinen praktischen Gesetzen einer reinen
Vernunftreligion zusammenstimmt, und es muss eine solche
Deutung, sollte sie auch, scheinbar oder wirklich, dem Text
Gewalt anthun, einer solchen buchstäblichen vorgezogen wer-
den, welche, wie namentlich auch bei manchen biblischen Ge-
schichten der Fall ist, entweder schlechterdings nichts für die
Moralität in sich enthält, oder den moralischen Triebfedern
wohl gar entgegenwirkt. So werden nun z. B. die rache-
schnaubenden Ausdrücke mancher Psalmen gegen Feinde auf
die Begierden und Leidenschaften umgedeutet, welche wir al-
lerdings streben müssen, nachgerade alle unter den Fu[s]s
zu bringen, und das Wundervolle, was im N. T. von Jesu
Herabkunft vom Himmel, seinem Verhältniss zu Gott u. s. f.
gesagt ist, wird als bildliche Bezeichnung des Ideals
der gottwohlgefälligen Menschheit genommen 2). Dass ei-
ne solche Deutung möglich ist, ohne eben immer wider den

2) Zweites Stück erster Abschnitt, a und b.

Einleitung. §. 7.
macht, daſs sie den gröbsten Polytheismus doch zulezt als
bloſse symbolische Vorstellung der Eigenschaften des Ei-
nen göttlichen Wesens umzudeuten, und den mancherlei
lasterhaften Handlungen ihrer Götter, den wildesten Träu-
mereien ihrer Dichter einen mystischen Sinn unterzulegen
wuſsten, um den Volksglauben, welchen zu vertilgen nicht
ersprieslich war, einer moralischen Lehre nahe zu brin-
gen. Auch das spätere Judenthum und selbst das Chri-
stenthum bestehe aus solchen zum Theil sehr gezwunge-
nen Deutungen, übrigens zu ungezweifelt guten und für
alle Menschen nothwendigen Zwecken. Nicht minder
wissen die Muhamedaner den üppigen Beschreibungen ih-
res Paradieses einen geistigen Sinn unterzulegen, und
dasselbe thun die Indier mit ihren Veda's, wenigstens
für den aufgeklärteren Theil ihres Volkes. Ebenso müssen
nun nach Kant die christlichen Religionsurkunden des
A. u. N. T.s durchgängig zu einem Sinn gedeutet werden,
welcher mit den allgemeinen praktischen Gesetzen einer reinen
Vernunftreligion zusammenstimmt, und es muſs eine solche
Deutung, sollte sie auch, scheinbar oder wirklich, dem Text
Gewalt anthun, einer solchen buchstäblichen vorgezogen wer-
den, welche, wie namentlich auch bei manchen biblischen Ge-
schichten der Fall ist, entweder schlechterdings nichts für die
Moralität in sich enthält, oder den moralischen Triebfedern
wohl gar entgegenwirkt. So werden nun z. B. die rache-
schnaubenden Ausdrücke mancher Psalmen gegen Feinde auf
die Begierden und Leidenschaften umgedeutet, welche wir al-
lerdings streben müssen, nachgerade alle unter den Fu[ſ]s
zu bringen, und das Wundervolle, was im N. T. von Jesu
Herabkunft vom Himmel, seinem Verhältniſs zu Gott u. s. f.
gesagt ist, wird als bildliche Bezeichnung des Ideals
der gottwohlgefälligen Menschheit genommen 2). Daſs ei-
ne solche Deutung möglich ist, ohne eben immer wider den

2) Zweites Stück erster Abschnitt, a und b.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0050" n="26"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>. §. 7.</fw><lb/>
macht, da&#x017F;s sie den gröbsten Polytheismus doch zulezt als<lb/>
blo&#x017F;se symbolische Vorstellung der Eigenschaften des Ei-<lb/>
nen göttlichen Wesens umzudeuten, und den mancherlei<lb/>
lasterhaften Handlungen ihrer Götter, den wildesten Träu-<lb/>
mereien ihrer Dichter einen mystischen Sinn unterzulegen<lb/>
wu&#x017F;sten, um den Volksglauben, welchen zu vertilgen nicht<lb/>
ersprieslich war, einer moralischen Lehre nahe zu brin-<lb/>
gen. Auch das spätere Judenthum und selbst das Chri-<lb/>
stenthum bestehe aus solchen zum Theil sehr gezwunge-<lb/>
nen Deutungen, übrigens zu ungezweifelt guten und für<lb/>
alle Menschen nothwendigen Zwecken. Nicht minder<lb/>
wissen die Muhamedaner den üppigen Beschreibungen ih-<lb/>
res Paradieses einen geistigen Sinn unterzulegen, und<lb/>
dasselbe thun die Indier mit ihren Veda's, wenigstens<lb/>
für den aufgeklärteren Theil ihres Volkes. Ebenso müssen<lb/>
nun nach <hi rendition="#k">Kant</hi> die christlichen Religionsurkunden des<lb/>
A. u. N. T.s durchgängig zu einem Sinn gedeutet werden,<lb/>
welcher mit den allgemeinen praktischen Gesetzen einer reinen<lb/>
Vernunftreligion zusammenstimmt, und es mu&#x017F;s eine solche<lb/>
Deutung, sollte sie auch, scheinbar oder wirklich, dem Text<lb/>
Gewalt anthun, einer solchen buchstäblichen vorgezogen wer-<lb/>
den, welche, wie namentlich auch bei manchen biblischen Ge-<lb/>
schichten der Fall ist, entweder schlechterdings nichts für die<lb/>
Moralität in sich enthält, oder den moralischen Triebfedern<lb/>
wohl gar entgegenwirkt. So werden nun z. B. die rache-<lb/>
schnaubenden Ausdrücke mancher Psalmen gegen Feinde auf<lb/>
die Begierden und Leidenschaften umgedeutet, welche wir al-<lb/>
lerdings streben müssen, nachgerade alle unter den Fu<supplied>&#x017F;</supplied>s<lb/>
zu bringen, und das Wundervolle, was im N. T. von Jesu<lb/>
Herabkunft vom Himmel, seinem Verhältni&#x017F;s zu Gott u. s. f.<lb/>
gesagt ist, wird als bildliche Bezeichnung des Ideals<lb/>
der gottwohlgefälligen Menschheit genommen <note place="foot" n="2)">Zweites Stück erster Abschnitt, a und b.</note>. Da&#x017F;s ei-<lb/>
ne solche Deutung möglich ist, ohne eben immer wider den<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[26/0050] Einleitung. §. 7. macht, daſs sie den gröbsten Polytheismus doch zulezt als bloſse symbolische Vorstellung der Eigenschaften des Ei- nen göttlichen Wesens umzudeuten, und den mancherlei lasterhaften Handlungen ihrer Götter, den wildesten Träu- mereien ihrer Dichter einen mystischen Sinn unterzulegen wuſsten, um den Volksglauben, welchen zu vertilgen nicht ersprieslich war, einer moralischen Lehre nahe zu brin- gen. Auch das spätere Judenthum und selbst das Chri- stenthum bestehe aus solchen zum Theil sehr gezwunge- nen Deutungen, übrigens zu ungezweifelt guten und für alle Menschen nothwendigen Zwecken. Nicht minder wissen die Muhamedaner den üppigen Beschreibungen ih- res Paradieses einen geistigen Sinn unterzulegen, und dasselbe thun die Indier mit ihren Veda's, wenigstens für den aufgeklärteren Theil ihres Volkes. Ebenso müssen nun nach Kant die christlichen Religionsurkunden des A. u. N. T.s durchgängig zu einem Sinn gedeutet werden, welcher mit den allgemeinen praktischen Gesetzen einer reinen Vernunftreligion zusammenstimmt, und es muſs eine solche Deutung, sollte sie auch, scheinbar oder wirklich, dem Text Gewalt anthun, einer solchen buchstäblichen vorgezogen wer- den, welche, wie namentlich auch bei manchen biblischen Ge- schichten der Fall ist, entweder schlechterdings nichts für die Moralität in sich enthält, oder den moralischen Triebfedern wohl gar entgegenwirkt. So werden nun z. B. die rache- schnaubenden Ausdrücke mancher Psalmen gegen Feinde auf die Begierden und Leidenschaften umgedeutet, welche wir al- lerdings streben müssen, nachgerade alle unter den Fuſs zu bringen, und das Wundervolle, was im N. T. von Jesu Herabkunft vom Himmel, seinem Verhältniſs zu Gott u. s. f. gesagt ist, wird als bildliche Bezeichnung des Ideals der gottwohlgefälligen Menschheit genommen 2). Daſs ei- ne solche Deutung möglich ist, ohne eben immer wider den 2) Zweites Stück erster Abschnitt, a und b.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/50
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/50>, abgerufen am 18.04.2024.