Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung. §. 6.
war. Doch erlaubte sich der genannte Kritiker wenigstens
bei einigen Theilen des A. T., wie z. B. bei dem Buche
der Richter, die Bemerkung, die in demselben enthaltenen
Berichte seien nicht gleich Anfangs aufgezeichnet worden,
sondern der Geschichtschreiber habe seine Helden im Nebel
der verflossenen Zeit gesehen, in welchem sie leicht zu
Riesengestalten sich haben vergrössern können. Einem von
ihm selbst gesehenen, oder ihm wenigstens nahe liegenden
Faktum freilich würde nur derjenige Geschichtschreiber
einen glänzenden Anstrich geben, welcher geflissentlich auf
Kosten der Wahrheit unterhalten wollte. Ganz anders,
wenn eine Geschichte längst vergangen sei. Da finde sich
die Einbildungskraft nicht mehr durch den Widerstand
der festen Gestalt historischer Wirklichkeit gehemmt, son-
dern durch die Vorstellung, dass in früheren Zeiten Alles
besser und grösser gewesen, ihren Schwung verstärkt, und
der Schriftsteller werde zu höheren Ausdrücken und einer
verherrlichenden Sprache hingerissen. Am wenigsten sei
diess dann zu vermeiden, wenn der spätere Concipient sei-
ne Erzählung aus dem Munde der Vorwelt niederschrei-
be, und die abenteuerlichen Thaten und Schicksale der
Vorfahren, welche der Vater dem Sohne, dieser dem En-
kel in begeisterter Sprache überliefert und Dichter mit
poetischem Schmucke umgeben hatten, in eben dieser er-
höhten Ausdrucksweise schriftlich verzeichne 10). Übrigens
auch bei dieser Ansicht von einem Theile der A. T.lichen
Bücher glaubte Eichhorn den historischen Boden noch nicht
zu verlieren, sondern getraute sich noch immer, über Ab-
zug der mehr oder minder starken traditionellen Zuthaten
den natürlichen Geschichtsverlauf herausbekommen zu
können.

Doch bei Einer A. T.lichen Erzählung wenigstens ist
der Meister der natürlichen Erklärungsweise für das A. T.

10) a. a. O. S. 294. Vergl. Einleitung in das A. T. 3ter Band.
S. 23 ff. der vierten Ausg.

Einleitung. §. 6.
war. Doch erlaubte sich der genannte Kritiker wenigstens
bei einigen Theilen des A. T., wie z. B. bei dem Buche
der Richter, die Bemerkung, die in demselben enthaltenen
Berichte seien nicht gleich Anfangs aufgezeichnet worden,
sondern der Geschichtschreiber habe seine Helden im Nebel
der verflossenen Zeit gesehen, in welchem sie leicht zu
Riesengestalten sich haben vergröſsern können. Einem von
ihm selbst gesehenen, oder ihm wenigstens nahe liegenden
Faktum freilich würde nur derjenige Geschichtschreiber
einen glänzenden Anstrich geben, welcher geflissentlich auf
Kosten der Wahrheit unterhalten wollte. Ganz anders,
wenn eine Geschichte längst vergangen sei. Da finde sich
die Einbildungskraft nicht mehr durch den Widerstand
der festen Gestalt historischer Wirklichkeit gehemmt, son-
dern durch die Vorstellung, daſs in früheren Zeiten Alles
besser und gröſser gewesen, ihren Schwung verstärkt, und
der Schriftsteller werde zu höheren Ausdrücken und einer
verherrlichenden Sprache hingerissen. Am wenigsten sei
dieſs dann zu vermeiden, wenn der spätere Concipient sei-
ne Erzählung aus dem Munde der Vorwelt niederschrei-
be, und die abenteuerlichen Thaten und Schicksale der
Vorfahren, welche der Vater dem Sohne, dieser dem En-
kel in begeisterter Sprache überliefert und Dichter mit
poëtischem Schmucke umgeben hatten, in eben dieser er-
höhten Ausdrucksweise schriftlich verzeichne 10). Übrigens
auch bei dieser Ansicht von einem Theile der A. T.lichen
Bücher glaubte Eichhorn den historischen Boden noch nicht
zu verlieren, sondern getraute sich noch immer, über Ab-
zug der mehr oder minder starken traditionellen Zuthaten
den natürlichen Geschichtsverlauf herausbekommen zu
können.

Doch bei Einer A. T.lichen Erzählung wenigstens ist
der Meister der natürlichen Erklärungsweise für das A. T.

10) a. a. O. S. 294. Vergl. Einleitung in das A. T. 3ter Band.
S. 23 ff. der vierten Ausg.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0047" n="23"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>. §. 6.</fw><lb/>
war. Doch erlaubte sich der genannte Kritiker wenigstens<lb/>
bei einigen Theilen des A. T., wie z. B. bei dem Buche<lb/>
der Richter, die Bemerkung, die in demselben enthaltenen<lb/>
Berichte seien nicht gleich Anfangs aufgezeichnet worden,<lb/>
sondern der Geschichtschreiber habe seine Helden im Nebel<lb/>
der verflossenen Zeit gesehen, in welchem sie leicht zu<lb/>
Riesengestalten sich haben vergrö&#x017F;sern können. Einem von<lb/>
ihm selbst gesehenen, oder ihm wenigstens nahe liegenden<lb/>
Faktum freilich würde nur derjenige Geschichtschreiber<lb/>
einen glänzenden Anstrich geben, welcher geflissentlich auf<lb/>
Kosten der Wahrheit unterhalten wollte. Ganz anders,<lb/>
wenn eine Geschichte längst vergangen sei. Da finde sich<lb/>
die Einbildungskraft nicht mehr durch den Widerstand<lb/>
der festen Gestalt historischer Wirklichkeit gehemmt, son-<lb/>
dern durch die Vorstellung, da&#x017F;s in früheren Zeiten Alles<lb/>
besser und grö&#x017F;ser gewesen, ihren Schwung verstärkt, und<lb/>
der Schriftsteller werde zu höheren Ausdrücken und einer<lb/>
verherrlichenden Sprache hingerissen. Am wenigsten sei<lb/>
die&#x017F;s dann zu vermeiden, wenn der spätere Concipient sei-<lb/>
ne Erzählung aus dem <hi rendition="#g">Munde</hi> der Vorwelt niederschrei-<lb/>
be, und die abenteuerlichen Thaten und Schicksale der<lb/>
Vorfahren, welche der Vater dem Sohne, dieser dem En-<lb/>
kel in begeisterter Sprache überliefert und Dichter mit<lb/>
poëtischem Schmucke umgeben hatten, in eben dieser er-<lb/>
höhten Ausdrucksweise schriftlich verzeichne <note place="foot" n="10)">a. a. O. S. 294. Vergl. Einleitung in das A. T. 3ter Band.<lb/>
S. 23 ff. der vierten Ausg.</note>. Übrigens<lb/>
auch bei dieser Ansicht von einem Theile der A. T.lichen<lb/>
Bücher glaubte <hi rendition="#k">Eichhorn</hi> den historischen Boden noch nicht<lb/>
zu verlieren, sondern getraute sich noch immer, über Ab-<lb/>
zug der mehr oder minder starken traditionellen Zuthaten<lb/>
den natürlichen Geschichtsverlauf herausbekommen zu<lb/>
können.</p><lb/>
          <p>Doch bei Einer A. T.lichen Erzählung wenigstens ist<lb/>
der Meister der natürlichen Erklärungsweise für das A. T.<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[23/0047] Einleitung. §. 6. war. Doch erlaubte sich der genannte Kritiker wenigstens bei einigen Theilen des A. T., wie z. B. bei dem Buche der Richter, die Bemerkung, die in demselben enthaltenen Berichte seien nicht gleich Anfangs aufgezeichnet worden, sondern der Geschichtschreiber habe seine Helden im Nebel der verflossenen Zeit gesehen, in welchem sie leicht zu Riesengestalten sich haben vergröſsern können. Einem von ihm selbst gesehenen, oder ihm wenigstens nahe liegenden Faktum freilich würde nur derjenige Geschichtschreiber einen glänzenden Anstrich geben, welcher geflissentlich auf Kosten der Wahrheit unterhalten wollte. Ganz anders, wenn eine Geschichte längst vergangen sei. Da finde sich die Einbildungskraft nicht mehr durch den Widerstand der festen Gestalt historischer Wirklichkeit gehemmt, son- dern durch die Vorstellung, daſs in früheren Zeiten Alles besser und gröſser gewesen, ihren Schwung verstärkt, und der Schriftsteller werde zu höheren Ausdrücken und einer verherrlichenden Sprache hingerissen. Am wenigsten sei dieſs dann zu vermeiden, wenn der spätere Concipient sei- ne Erzählung aus dem Munde der Vorwelt niederschrei- be, und die abenteuerlichen Thaten und Schicksale der Vorfahren, welche der Vater dem Sohne, dieser dem En- kel in begeisterter Sprache überliefert und Dichter mit poëtischem Schmucke umgeben hatten, in eben dieser er- höhten Ausdrucksweise schriftlich verzeichne 10). Übrigens auch bei dieser Ansicht von einem Theile der A. T.lichen Bücher glaubte Eichhorn den historischen Boden noch nicht zu verlieren, sondern getraute sich noch immer, über Ab- zug der mehr oder minder starken traditionellen Zuthaten den natürlichen Geschichtsverlauf herausbekommen zu können. Doch bei Einer A. T.lichen Erzählung wenigstens ist der Meister der natürlichen Erklärungsweise für das A. T. 10) a. a. O. S. 294. Vergl. Einleitung in das A. T. 3ter Band. S. 23 ff. der vierten Ausg.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/47
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/47>, abgerufen am 20.04.2024.