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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Einleitung. §. 6.
vor einer solchen Vorstellung erschrecken. Die grössten
Männer der früheren Welt, die auf die Bildung ihrer Zeit-
genossen so mächtig und wohlthätig gewirkt haben, soll-
ten alle Betrüger gewesen sein, und zwar ohne dass es
von den Mitlebenden bemerkt worden wäre? --

Zu einer solchen Missdeutung wird man nach Eich-
horn
nur dadurch verleitet, dass man es versäumt, jene
alten Urkunden im Geiste ihrer Zeit aufzufassen. Frei-
lich, wenn sie mit der philosophischen Präcision unserer
jetzigen Schriftsteller redeten, so könnten wir nur entwe-
der wirkliche göttliche Einwirkung, oder ein betrügliches
Vorgeben einer solchen in ihnen finden. So aber, als
Schriften aus einer unphilosophischen, kindlichen Zeit, re-
den sie unbefangen von göttlicher Einwirkung nach alter-
thümlicher Vorstellungs- und Ausdrucksweise, und so ha-
ben wir zwar keine Wunder anzustaunen, aber auch kei-
nen Betrug zu entlarven, sondern nur die Sprache der
Vorzeit in unsere heutige zu übersetzen. So lange das
Menschengeschlecht, erinnert Eichhorn, dem wahren Ur-
sprung der Dinge noch nicht auf den Grund gekommen
war, leitete es Alles von übernatürlichen Krätten oder der
Dazwischenkunft höherer Wesen ab; höhere Gedanken,
grosse Entschliessungen, nüzliche Erfindungen und Einrich-
tungen, vorzüglich auch lebhafte Träume waren Einwir-
kungen der Gottheit, unter deren unmittelbarem Einfluss
man zu stehen glaubte. Die Proben ausgezeichneter Kennt-
nisse und Geschicklichkeiten, mit welchen Einer das Volk in
Erstaunen sezte, galten für Wunder, für Beweise über-
natürlicher Kräfte und des besondern Umgangs mit höhe-
ren Wesen, -- und nicht nur das Volk war dieser Mei-
nung, sondern auch jene ausgezeichneten Männer selbst
liessen sich keinen Zweifel dagegen beifallen, und rühm-
ten sich mit voller Uberzeugung eines geheimen Umgangs
mit der Gottheit. Gegen den Versuch, alle Erzählungen
der mosaischen Geschichte in natürliche Ereignisse aufzu-

Einleitung. §. 6.
vor einer solchen Vorstellung erschrecken. Die gröſsten
Männer der früheren Welt, die auf die Bildung ihrer Zeit-
genossen so mächtig und wohlthätig gewirkt haben, soll-
ten alle Betrüger gewesen sein, und zwar ohne daſs es
von den Mitlebenden bemerkt worden wäre? —

Zu einer solchen Miſsdeutung wird man nach Eich-
horn
nur dadurch verleitet, daſs man es versäumt, jene
alten Urkunden im Geiste ihrer Zeit aufzufassen. Frei-
lich, wenn sie mit der philosophischen Präcision unserer
jetzigen Schriftsteller redeten, so könnten wir nur entwe-
der wirkliche göttliche Einwirkung, oder ein betrügliches
Vorgeben einer solchen in ihnen finden. So aber, als
Schriften aus einer unphilosophischen, kindlichen Zeit, re-
den sie unbefangen von göttlicher Einwirkung nach alter-
thümlicher Vorstellungs- und Ausdrucksweise, und so ha-
ben wir zwar keine Wunder anzustaunen, aber auch kei-
nen Betrug zu entlarven, sondern nur die Sprache der
Vorzeit in unsere heutige zu übersetzen. So lange das
Menschengeschlecht, erinnert Eichhorn, dem wahren Ur-
sprung der Dinge noch nicht auf den Grund gekommen
war, leitete es Alles von übernatürlichen Krätten oder der
Dazwischenkunft höherer Wesen ab; höhere Gedanken,
groſse Entschlieſsungen, nüzliche Erfindungen und Einrich-
tungen, vorzüglich auch lebhafte Träume waren Einwir-
kungen der Gottheit, unter deren unmittelbarem Einfluſs
man zu stehen glaubte. Die Proben ausgezeichneter Kennt-
nisse und Geschicklichkeiten, mit welchen Einer das Volk in
Erstaunen sezte, galten für Wunder, für Beweise über-
natürlicher Kräfte und des besondern Umgangs mit höhe-
ren Wesen, — und nicht nur das Volk war dieser Mei-
nung, sondern auch jene ausgezeichneten Männer selbst
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mit der Gottheit. Gegen den Versuch, alle Erzählungen
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[18/0042] Einleitung. §. 6. vor einer solchen Vorstellung erschrecken. Die gröſsten Männer der früheren Welt, die auf die Bildung ihrer Zeit- genossen so mächtig und wohlthätig gewirkt haben, soll- ten alle Betrüger gewesen sein, und zwar ohne daſs es von den Mitlebenden bemerkt worden wäre? — Zu einer solchen Miſsdeutung wird man nach Eich- horn nur dadurch verleitet, daſs man es versäumt, jene alten Urkunden im Geiste ihrer Zeit aufzufassen. Frei- lich, wenn sie mit der philosophischen Präcision unserer jetzigen Schriftsteller redeten, so könnten wir nur entwe- der wirkliche göttliche Einwirkung, oder ein betrügliches Vorgeben einer solchen in ihnen finden. So aber, als Schriften aus einer unphilosophischen, kindlichen Zeit, re- den sie unbefangen von göttlicher Einwirkung nach alter- thümlicher Vorstellungs- und Ausdrucksweise, und so ha- ben wir zwar keine Wunder anzustaunen, aber auch kei- nen Betrug zu entlarven, sondern nur die Sprache der Vorzeit in unsere heutige zu übersetzen. So lange das Menschengeschlecht, erinnert Eichhorn, dem wahren Ur- sprung der Dinge noch nicht auf den Grund gekommen war, leitete es Alles von übernatürlichen Krätten oder der Dazwischenkunft höherer Wesen ab; höhere Gedanken, groſse Entschlieſsungen, nüzliche Erfindungen und Einrich- tungen, vorzüglich auch lebhafte Träume waren Einwir- kungen der Gottheit, unter deren unmittelbarem Einfluſs man zu stehen glaubte. Die Proben ausgezeichneter Kennt- nisse und Geschicklichkeiten, mit welchen Einer das Volk in Erstaunen sezte, galten für Wunder, für Beweise über- natürlicher Kräfte und des besondern Umgangs mit höhe- ren Wesen, — und nicht nur das Volk war dieser Mei- nung, sondern auch jene ausgezeichneten Männer selbst lieſsen sich keinen Zweifel dagegen beifallen, und rühm- ten sich mit voller Uberzeugung eines geheimen Umgangs mit der Gottheit. Gegen den Versuch, alle Erzählungen der mosaischen Geschichte in natürliche Ereignisse aufzu-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/42>, abgerufen am 28.03.2024.