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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Einleitung. §. 2.
bei Festhaltung des Wesentlichen das Unwesentliche un-
gescheut preissgegeben werden.

§. 2.
Verschiedene Deutungen der Göttersagen bei den Griechen.

Man kann nicht sagen, dass die hellenische Religion
auf schriftlichen Urkunden beruht habe, aber sie hatte doch
dergleichen z. B. in Homer und Hesiod, und wie diese, so hat
auch ihre mündliche Göttersage bei fortschreitender Bil-
dung des griechischen Volkes jene verschiedenen Deutun-
gen erfahren müssen. Der ernsten griechischen Philosophie
gieng frühzeitig das Bewusstsein auf, dass das Göttliche
sich nicht in solcher menschlichen Unmittelbarkeit und
Roheit verwirklichen könne, wie die wilden Kämpfe der
hesiodischen Theogonie und das behagliche Treiben der
homerischen Götter es darstellten; daher Plato's Zwist mit
Homer 1), daher, dass Anaxagoras, dem man wohl auch
die Erfindung der allegorischen Auslegung zuschrieb, die
homerischen Gedichte auf die arete und dikaiosune be-
zog 2), dass die Stoiker die hesiodische Theogonie von dem
Process der Naturprinzipien verstanden, deren oberste Ein-
heit ihnen das Göttliche war 3), womit diese Philosophen
zwar einen absoluten Inhalt, jeder nach seiner Weise, der
Eine einen physischen, der Andere einen ethischen, in je-
nen Darstellungen fanden, aber die Form derselben, als ei-
ner menschlichen Geschichte, aufhoben. Umgekehrt war
der mehr populären, sophistisch-räsonnirenden Bildung An-
derer, wie ihnen jeder göttliche Inhalt überhaupt sich ver-
flüchtigt hatte, so auch in Bezug auf die Göttergeschichten
zum Bewusstsein gekommen, dass ein solches Treiben, wie
es hier den Göttern zugeschrieben wurde, kein göttliches

1) Vgl. de republ. 2, p. 377 f. Steph.
2) Diog. Laert. L. 2. c. 3. No. 7. Vgl. über dies und das Fol-
gende Baur, Symb. u. Mythol. I. S. 343 ff.
3) Cic. de nat. Deor. I, 10. 15. Vgl. Clement. hom. 6, 1 ff.
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Einleitung. §. 2.
bei Festhaltung des Wesentlichen das Unwesentliche un-
gescheut preiſsgegeben werden.

§. 2.
Verschiedene Deutungen der Göttersagen bei den Griechen.

Man kann nicht sagen, daſs die hellenische Religion
auf schriftlichen Urkunden beruht habe, aber sie hatte doch
dergleichen z. B. in Homer und Hesiod, und wie diese, so hat
auch ihre mündliche Göttersage bei fortschreitender Bil-
dung des griechischen Volkes jene verschiedenen Deutun-
gen erfahren müssen. Der ernsten griechischen Philosophie
gieng frühzeitig das Bewuſstsein auf, daſs das Göttliche
sich nicht in solcher menschlichen Unmittelbarkeit und
Roheit verwirklichen könne, wie die wilden Kämpfe der
hesiodischen Theogonie und das behagliche Treiben der
homerischen Götter es darstellten; daher Plato's Zwist mit
Homer 1), daher, daſs Anaxagoras, dem man wohl auch
die Erfindung der allegorischen Auslegung zuschrieb, die
homerischen Gedichte auf die ἀρετὴ und δικαιοσύνη be-
zog 2), daſs die Stoiker die hesiodische Theogonie von dem
Proceſs der Naturprinzipien verstanden, deren oberste Ein-
heit ihnen das Göttliche war 3), womit diese Philosophen
zwar einen absoluten Inhalt, jeder nach seiner Weise, der
Eine einen physischen, der Andere einen ethischen, in je-
nen Darstellungen fanden, aber die Form derselben, als ei-
ner menschlichen Geschichte, aufhoben. Umgekehrt war
der mehr populären, sophistisch-räsonnirenden Bildung An-
derer, wie ihnen jeder göttliche Inhalt überhaupt sich ver-
flüchtigt hatte, so auch in Bezug auf die Göttergeschichten
zum Bewuſstsein gekommen, daſs ein solches Treiben, wie
es hier den Göttern zugeschrieben wurde, kein göttliches

1) Vgl. de republ. 2, p. 377 f. Steph.
2) Diog. Laërt. L. 2. c. 3. No. 7. Vgl. über dies und das Fol-
gende Baur, Symb. u. Mythol. I. S. 343 ff.
3) Cic. de nat. Deor. I, 10. 15. Vgl. Clement. hom. 6, 1 ff.
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[3/0027] Einleitung. §. 2. bei Festhaltung des Wesentlichen das Unwesentliche un- gescheut preiſsgegeben werden. §. 2. Verschiedene Deutungen der Göttersagen bei den Griechen. Man kann nicht sagen, daſs die hellenische Religion auf schriftlichen Urkunden beruht habe, aber sie hatte doch dergleichen z. B. in Homer und Hesiod, und wie diese, so hat auch ihre mündliche Göttersage bei fortschreitender Bil- dung des griechischen Volkes jene verschiedenen Deutun- gen erfahren müssen. Der ernsten griechischen Philosophie gieng frühzeitig das Bewuſstsein auf, daſs das Göttliche sich nicht in solcher menschlichen Unmittelbarkeit und Roheit verwirklichen könne, wie die wilden Kämpfe der hesiodischen Theogonie und das behagliche Treiben der homerischen Götter es darstellten; daher Plato's Zwist mit Homer 1), daher, daſs Anaxagoras, dem man wohl auch die Erfindung der allegorischen Auslegung zuschrieb, die homerischen Gedichte auf die ἀρετὴ und δικαιοσύνη be- zog 2), daſs die Stoiker die hesiodische Theogonie von dem Proceſs der Naturprinzipien verstanden, deren oberste Ein- heit ihnen das Göttliche war 3), womit diese Philosophen zwar einen absoluten Inhalt, jeder nach seiner Weise, der Eine einen physischen, der Andere einen ethischen, in je- nen Darstellungen fanden, aber die Form derselben, als ei- ner menschlichen Geschichte, aufhoben. Umgekehrt war der mehr populären, sophistisch-räsonnirenden Bildung An- derer, wie ihnen jeder göttliche Inhalt überhaupt sich ver- flüchtigt hatte, so auch in Bezug auf die Göttergeschichten zum Bewuſstsein gekommen, daſs ein solches Treiben, wie es hier den Göttern zugeschrieben wurde, kein göttliches 1) Vgl. de republ. 2, p. 377 f. Steph. 2) Diog. Laërt. L. 2. c. 3. No. 7. Vgl. über dies und das Fol- gende Baur, Symb. u. Mythol. I. S. 343 ff. 3) Cic. de nat. Deor. I, 10. 15. Vgl. Clement. hom. 6, 1 ff. 1*

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/27>, abgerufen am 16.04.2024.