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Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888.

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"Das ist egal," sagte die Alte; "aber Ihr
glaubt nicht, Hauke Haien; Ihr wollt wohl meinen
Großohm noch zum Lügner machen!" Dann rückte
sie näher an den Heerd und streckte die Hände über
die Flammen des Feuerlochs.

Der Deichgraf warf einen Blick gegen das
Fenster: draußen dämmerte es noch kaum. "Komm,
Wienke!" sagte er und zog sein schwachsinniges Kind
zu sich heran; "komm mit mir, ich will Dir draußen
vom Deich aus etwas zeigen! Nur müssen wir zu
Fuß gehen; der Schimmel ist beim Schmied."
Dann ging er mit ihr in die Stube, und Elke
band dem Kinde dicke wollene Tücher um Hals
und Schultern; und bald danach ging der Vater
mit ihr auf dem alten Deiche nach Nordwest hin-
auf, Jeverssand vorbei, bis wo die Watten breit,
fast unübersehbar wurden.

Bald hatte er sie getragen, bald ging sie an
seiner Hand; die Dämmerung wuchs allmälig; in
der Ferne verschwand Alles in Dunst und Duft.
Aber dort, wohin noch das Auge reichte, hatten
die unsichtbar schwellenden Wattströme das Eis
zerrissen, und, wie Hauke Haien es in seiner Jugend
einst gesehen hatte, aus den Spalten stiegen wie

„Das iſt egal,” ſagte die Alte; „aber Ihr
glaubt nicht, Hauke Haien; Ihr wollt wohl meinen
Großohm noch zum Lügner machen!” Dann rückte
ſie näher an den Heerd und ſtreckte die Hände über
die Flammen des Feuerlochs.

Der Deichgraf warf einen Blick gegen das
Fenſter: draußen dämmerte es noch kaum. „Komm,
Wienke!” ſagte er und zog ſein ſchwachſinniges Kind
zu ſich heran; „komm mit mir, ich will Dir draußen
vom Deich aus etwas zeigen! Nur müſſen wir zu
Fuß gehen; der Schimmel iſt beim Schmied.”
Dann ging er mit ihr in die Stube, und Elke
band dem Kinde dicke wollene Tücher um Hals
und Schultern; und bald danach ging der Vater
mit ihr auf dem alten Deiche nach Nordweſt hin-
auf, Jeversſand vorbei, bis wo die Watten breit,
faſt unüberſehbar wurden.

Bald hatte er ſie getragen, bald ging ſie an
ſeiner Hand; die Dämmerung wuchs allmälig; in
der Ferne verſchwand Alles in Dunſt und Duft.
Aber dort, wohin noch das Auge reichte, hatten
die unſichtbar ſchwellenden Wattſtröme das Eis
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[183/0195] „Das iſt egal,” ſagte die Alte; „aber Ihr glaubt nicht, Hauke Haien; Ihr wollt wohl meinen Großohm noch zum Lügner machen!” Dann rückte ſie näher an den Heerd und ſtreckte die Hände über die Flammen des Feuerlochs. Der Deichgraf warf einen Blick gegen das Fenſter: draußen dämmerte es noch kaum. „Komm, Wienke!” ſagte er und zog ſein ſchwachſinniges Kind zu ſich heran; „komm mit mir, ich will Dir draußen vom Deich aus etwas zeigen! Nur müſſen wir zu Fuß gehen; der Schimmel iſt beim Schmied.” Dann ging er mit ihr in die Stube, und Elke band dem Kinde dicke wollene Tücher um Hals und Schultern; und bald danach ging der Vater mit ihr auf dem alten Deiche nach Nordweſt hin- auf, Jeversſand vorbei, bis wo die Watten breit, faſt unüberſehbar wurden. Bald hatte er ſie getragen, bald ging ſie an ſeiner Hand; die Dämmerung wuchs allmälig; in der Ferne verſchwand Alles in Dunſt und Duft. Aber dort, wohin noch das Auge reichte, hatten die unſichtbar ſchwellenden Wattſtröme das Eis zerriſſen, und, wie Hauke Haien es in ſeiner Jugend einſt geſehen hatte, aus den Spalten ſtiegen wie

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Zitationshilfe: Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_schimmelreiter_1888/195>, abgerufen am 29.03.2024.