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Storm, Theodor: Aquis submersus. Berlin, 1877.

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unheimlichen Dingen hing im Schiff der Kirche
das unschuldige Bildniß eines todten Kindes,
eines schönen, etwa fünfjährigen Knaben, der,
aus einem mit Spitzen besetzten Kissen ruhend,
eine weiße Wasserlilie in seiner kleinen, bleichen
Hand hielt. Aus dem zarten Antlitz sprach neben
dem Grauen des Todes, wie hülfeflehend, noch
eine letzte holde Spur des Lebens; ein unwider¬
stehliches Mitleid befiel mich, wenn ich vor diesem
Bilde stand.

Aber es hing nicht allein hier; dicht daneben
schaute aus dunklem Holzrahmen ein finsterer
schwarzbärtiger Mann in Priesterkragen und
Sammar. Mein Freund sagte mir, es sei der
Vater jenes schönen Knaben; dieser selbst, so
gehe noch heute die Sage, solle einst in der
Wassergrube unserer Priesterkoppel seinen Tod
gefunden haben. Auf dem Rahmen lasen wir
die Jahrzahl 1666; das war lange her. Immer
wieder zog es mich zu diesen beiden Bildern;
ein phantastisches Verlangen ergriff mich, von
dem Leben und Sterben des Kindes eine nähere

unheimlichen Dingen hing im Schiff der Kirche
das unſchuldige Bildniß eines todten Kindes,
eines ſchönen, etwa fünfjährigen Knaben, der,
aus einem mit Spitzen beſetzten Kiſſen ruhend,
eine weiße Waſſerlilie in ſeiner kleinen, bleichen
Hand hielt. Aus dem zarten Antlitz ſprach neben
dem Grauen des Todes, wie hülfeflehend, noch
eine letzte holde Spur des Lebens; ein unwider¬
ſtehliches Mitleid befiel mich, wenn ich vor dieſem
Bilde ſtand.

Aber es hing nicht allein hier; dicht daneben
ſchaute aus dunklem Holzrahmen ein finſterer
ſchwarzbärtiger Mann in Prieſterkragen und
Sammar. Mein Freund ſagte mir, es ſei der
Vater jenes ſchönen Knaben; dieſer ſelbſt, ſo
gehe noch heute die Sage, ſolle einſt in der
Waſſergrube unſerer Prieſterkoppel ſeinen Tod
gefunden haben. Auf dem Rahmen laſen wir
die Jahrzahl 1666; das war lange her. Immer
wieder zog es mich zu dieſen beiden Bildern;
ein phantaſtiſches Verlangen ergriff mich, von
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[8/0022] unheimlichen Dingen hing im Schiff der Kirche das unſchuldige Bildniß eines todten Kindes, eines ſchönen, etwa fünfjährigen Knaben, der, aus einem mit Spitzen beſetzten Kiſſen ruhend, eine weiße Waſſerlilie in ſeiner kleinen, bleichen Hand hielt. Aus dem zarten Antlitz ſprach neben dem Grauen des Todes, wie hülfeflehend, noch eine letzte holde Spur des Lebens; ein unwider¬ ſtehliches Mitleid befiel mich, wenn ich vor dieſem Bilde ſtand. Aber es hing nicht allein hier; dicht daneben ſchaute aus dunklem Holzrahmen ein finſterer ſchwarzbärtiger Mann in Prieſterkragen und Sammar. Mein Freund ſagte mir, es ſei der Vater jenes ſchönen Knaben; dieſer ſelbſt, ſo gehe noch heute die Sage, ſolle einſt in der Waſſergrube unſerer Prieſterkoppel ſeinen Tod gefunden haben. Auf dem Rahmen laſen wir die Jahrzahl 1666; das war lange her. Immer wieder zog es mich zu dieſen beiden Bildern; ein phantaſtiſches Verlangen ergriff mich, von dem Leben und Sterben des Kindes eine nähere

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Zitationshilfe: Storm, Theodor: Aquis submersus. Berlin, 1877, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_aquis_1877/22>, abgerufen am 24.04.2024.