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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 1. Riga, 1794.

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So kurz indessen unser Sommer ist, so
fehlt es ihm doch nicht an Annehmlichkeiten,
und vielleicht wird er hier um desto besser ge-
nossen, weil er so kurz ist. Bey dem ersten
Lächeln der wiederkehrenden Sonne begiebt man
sich auf die nahe gelegenen Landsitze, wo die
bessere Jahrszeit im Genuß gastfreundschaftli-
cher Geselligkeit nur allzubald verfließt. Zu
den eigenthümlichen Vorzügen des hiesigen Som-
mers gehören die hellen und zum Theil war-
men Nächte. Der sanfte Schimmer der kaum
untergetauchten Sonne röthet den Horizont
und verschönert die Gegenstände; die geräusch-
volle Thätigkeit in den Gassen verliert sich,
aber nicht zu einer todten Stille, sondern zu
jener müßigen Geschäftigkeit, die wollüstiger
als die Ruhe selbst ist; überall trifft man auf
Spaziergänger, die sich zuweilen von Musik
begleiten lassen; auf der Newa und auf allen
Kanälen schwimmen Schaluppen, von denen der
einfache melodische Volksgesang der Matrosen
ertönt -- durch die Neuheit der Scene und
ihren Reiz verführt und in der Erwartung der
kommenden Nacht sieht man sich durch eine an-
nehme Ueberraschung um seinen Schlaf betro-

So kurz indeſſen unſer Sommer iſt, ſo
fehlt es ihm doch nicht an Annehmlichkeiten,
und vielleicht wird er hier um deſto beſſer ge-
noſſen, weil er ſo kurz iſt. Bey dem erſten
Laͤcheln der wiederkehrenden Sonne begiebt man
ſich auf die nahe gelegenen Landſitze, wo die
beſſere Jahrszeit im Genuß gaſtfreundſchaftli-
cher Geſelligkeit nur allzubald verfließt. Zu
den eigenthuͤmlichen Vorzuͤgen des hieſigen Som-
mers gehoͤren die hellen und zum Theil war-
men Naͤchte. Der ſanfte Schimmer der kaum
untergetauchten Sonne roͤthet den Horizont
und verſchoͤnert die Gegenſtaͤnde; die geraͤuſch-
volle Thaͤtigkeit in den Gaſſen verliert ſich,
aber nicht zu einer todten Stille, ſondern zu
jener muͤßigen Geſchaͤftigkeit, die wolluͤſtiger
als die Ruhe ſelbſt iſt; uͤberall trifft man auf
Spaziergaͤnger, die ſich zuweilen von Muſik
begleiten laſſen; auf der Newa und auf allen
Kanaͤlen ſchwimmen Schaluppen, von denen der
einfache melodiſche Volksgeſang der Matroſen
ertoͤnt — durch die Neuheit der Scene und
ihren Reiz verfuͤhrt und in der Erwartung der
kommenden Nacht ſieht man ſich durch eine an-
nehme Ueberraſchung um ſeinen Schlaf betro-

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[12/0046] So kurz indeſſen unſer Sommer iſt, ſo fehlt es ihm doch nicht an Annehmlichkeiten, und vielleicht wird er hier um deſto beſſer ge- noſſen, weil er ſo kurz iſt. Bey dem erſten Laͤcheln der wiederkehrenden Sonne begiebt man ſich auf die nahe gelegenen Landſitze, wo die beſſere Jahrszeit im Genuß gaſtfreundſchaftli- cher Geſelligkeit nur allzubald verfließt. Zu den eigenthuͤmlichen Vorzuͤgen des hieſigen Som- mers gehoͤren die hellen und zum Theil war- men Naͤchte. Der ſanfte Schimmer der kaum untergetauchten Sonne roͤthet den Horizont und verſchoͤnert die Gegenſtaͤnde; die geraͤuſch- volle Thaͤtigkeit in den Gaſſen verliert ſich, aber nicht zu einer todten Stille, ſondern zu jener muͤßigen Geſchaͤftigkeit, die wolluͤſtiger als die Ruhe ſelbſt iſt; uͤberall trifft man auf Spaziergaͤnger, die ſich zuweilen von Muſik begleiten laſſen; auf der Newa und auf allen Kanaͤlen ſchwimmen Schaluppen, von denen der einfache melodiſche Volksgeſang der Matroſen ertoͤnt — durch die Neuheit der Scene und ihren Reiz verfuͤhrt und in der Erwartung der kommenden Nacht ſieht man ſich durch eine an- nehme Ueberraſchung um ſeinen Schlaf betro-

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Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 1. Riga, 1794, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg01_1794/46>, abgerufen am 19.04.2024.