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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 1. Riga, 1794.

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Anschlage werden hier jährlich über 200,000
Klafter verbraucht, deren Geldwerth gegen
eine halbe Million Rubel beträgt. Diese fürch-
terliche Konsumtion und der steigende Preis
des Holzes sind der Aufmerksamkeit des Patri-
oten werth. Der Aufwand in Lichten und
Wachskerzen ist verhältnißmäßig eben so groß.
Den langen Winter hindurch lebt man beynah in
einer ewigen Nacht, da unser kürzester Tag
nur sechstehalb Stunden währt. In Häusern
von gutem Ton werden die Kerzen angezündet,
ehe man sich zur Mittagstafel setzt.

Der Frühling ist so kurz, daß er kaum
unter die Jahrszeiten gerechnet werden darf.
Der März und April werden gewöhnlich durch
heitere Tage angenehm, aber die Luft ist noch
rauh, und die Newa trägt oft noch ihren Eis-
rücken. Im May verändert sich plötzlich die
Scene: die Wintertracht verschwindet ganz,
aber den balsamduftenden Frühling verjagen
kalte nördliche Winde. Durch einen raschen
Uebergang werden wir in den Sommer ver-
setzt. Auch sein Daseyn ist von kurzer Dauer;
kaum erwacht, kaum genossen, eilt er vorüber --
er mox bruma recurrit iners.


Anſchlage werden hier jaͤhrlich uͤber 200,000
Klafter verbraucht, deren Geldwerth gegen
eine halbe Million Rubel betraͤgt. Dieſe fuͤrch-
terliche Konſumtion und der ſteigende Preis
des Holzes ſind der Aufmerkſamkeit des Patri-
oten werth. Der Aufwand in Lichten und
Wachskerzen iſt verhaͤltnißmaͤßig eben ſo groß.
Den langen Winter hindurch lebt man beynah in
einer ewigen Nacht, da unſer kuͤrzeſter Tag
nur ſechstehalb Stunden waͤhrt. In Haͤuſern
von gutem Ton werden die Kerzen angezuͤndet,
ehe man ſich zur Mittagstafel ſetzt.

Der Fruͤhling iſt ſo kurz, daß er kaum
unter die Jahrszeiten gerechnet werden darf.
Der Maͤrz und April werden gewoͤhnlich durch
heitere Tage angenehm, aber die Luft iſt noch
rauh, und die Newa traͤgt oft noch ihren Eis-
ruͤcken. Im May veraͤndert ſich ploͤtzlich die
Scene: die Wintertracht verſchwindet ganz,
aber den balſamduftenden Fruͤhling verjagen
kalte noͤrdliche Winde. Durch einen raſchen
Uebergang werden wir in den Sommer ver-
ſetzt. Auch ſein Daſeyn iſt von kurzer Dauer;
kaum erwacht, kaum genoſſen, eilt er voruͤber —
er mox bruma recurrit iners.


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[11/0045] Anſchlage werden hier jaͤhrlich uͤber 200,000 Klafter verbraucht, deren Geldwerth gegen eine halbe Million Rubel betraͤgt. Dieſe fuͤrch- terliche Konſumtion und der ſteigende Preis des Holzes ſind der Aufmerkſamkeit des Patri- oten werth. Der Aufwand in Lichten und Wachskerzen iſt verhaͤltnißmaͤßig eben ſo groß. Den langen Winter hindurch lebt man beynah in einer ewigen Nacht, da unſer kuͤrzeſter Tag nur ſechstehalb Stunden waͤhrt. In Haͤuſern von gutem Ton werden die Kerzen angezuͤndet, ehe man ſich zur Mittagstafel ſetzt. Der Fruͤhling iſt ſo kurz, daß er kaum unter die Jahrszeiten gerechnet werden darf. Der Maͤrz und April werden gewoͤhnlich durch heitere Tage angenehm, aber die Luft iſt noch rauh, und die Newa traͤgt oft noch ihren Eis- ruͤcken. Im May veraͤndert ſich ploͤtzlich die Scene: die Wintertracht verſchwindet ganz, aber den balſamduftenden Fruͤhling verjagen kalte noͤrdliche Winde. Durch einen raſchen Uebergang werden wir in den Sommer ver- ſetzt. Auch ſein Daſeyn iſt von kurzer Dauer; kaum erwacht, kaum genoſſen, eilt er voruͤber — er mox bruma recurrit iners.

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Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 1. Riga, 1794, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg01_1794/45>, abgerufen am 28.03.2024.