Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stock, Ch. L.: Grundzüge der Verfassung des Gesellenwesens der deutschen Handwerker in alter und neuer Zeit. Magdeburg, 1844.

Bild:
<< vorherige Seite

der Stadt, bei ihm zu arbeiten, bis die Sache bei der Innung
untersucht und ausgeglichen war. Zu dieser Klasse gehört auch,
wenn ein Meister von der Innung selbst gescholten wurde, in
diesem Fall durften die Gesellen nur mit Erlaubniß des Ober-
meisters bei ihm bleiben.

Die zweite Klasse ereignete sich, wenn die Meister einen
gemeinsamen Beschluß über eine vorzunehmende Veränderung in
den Verhältnissen der Gesellen zu ihnen, gefaßt hatten, mit dem
diese nicht einverstanden waren und der auf ihre Vorstellung nicht
zurückgenommen wurde. Dahin gehören: Vermehrung der Ar-
beitsstunden, Herabsetzung des Lohns, Verlegung der Auflage-
termine, Beschränkung des Gebrauchs des Brüderschaftssiegels,
und der Feier gewisser Tage, dritter Feiertag, blauer Montag,
versagtes Gehör bei der Innung oder Abweisung etc. Jede dieser
Vorfallenheiten war geeignet, einen allgemeinen Aufstand unter
ihnen hervorzurufen, besonders wenn die Altgesellen gegen die
Anordnung der Meister eingenommen waren. Konnte man sich
nicht einigen, so zogen die Gesellen in Masse aus der Stadt,
erließen aber vorher Laufschreiben an die Brüderschaften ihres
Handwerks in den nächsten und entferntesten Städten, worin sie
diesen untersagten, so lange in der betreffenden Stadt zu arbei-
ten, bis die Meister ihren Beschluß würden zurückgenommen
haben. Ein solcher Aufstand oder Verruf nahm mehr oder we-
niger einen politischen Charakter an, er verletzte die Privilegien
der betreffenden Innung in allen Staaten, die Landeshoheit der
Fürsten, und störte den Frieden vieler Hundert Familien, denn
auch die eingebornen Gesellen der betreffenden Stadt mußten
der größern Masse folgen, wenn sie sich nicht der Verachtung
und Rache derselben auf ihrer künftigen Wanderschaft aussetzen
wollten. Ein solcher Aufstand wurde noch bedenklicher, wenn
die Orts-Obrigkeit Veranlassung dazu gegeben hatte, und die
Meister sich der Gesellen nicht annahmen. Dieser Fall ereignete
sich 1725 unter den Schuhmachern in Augsburg. Die Hand-
werksgesellen mögen hin und wieder in ähnliche Verirrungen ge-
fallen sein, aber keine hat der Innungsverfassung so sehr gescha-
det, als diese, denn sie ist unbezweifelt die nächste Veranlassung

der Stadt, bei ihm zu arbeiten, bis die Sache bei der Innung
unterſucht und ausgeglichen war. Zu dieſer Klaſſe gehört auch,
wenn ein Meiſter von der Innung ſelbſt geſcholten wurde, in
dieſem Fall durften die Geſellen nur mit Erlaubniß des Ober-
meiſters bei ihm bleiben.

Die zweite Klaſſe ereignete ſich, wenn die Meiſter einen
gemeinſamen Beſchluß über eine vorzunehmende Veränderung in
den Verhältniſſen der Geſellen zu ihnen, gefaßt hatten, mit dem
dieſe nicht einverſtanden waren und der auf ihre Vorſtellung nicht
zurückgenommen wurde. Dahin gehören: Vermehrung der Ar-
beitsſtunden, Herabſetzung des Lohns, Verlegung der Auflage-
termine, Beſchränkung des Gebrauchs des Brüderſchaftsſiegels,
und der Feier gewiſſer Tage, dritter Feiertag, blauer Montag,
verſagtes Gehör bei der Innung oder Abweiſung ꝛc. Jede dieſer
Vorfallenheiten war geeignet, einen allgemeinen Aufſtand unter
ihnen hervorzurufen, beſonders wenn die Altgeſellen gegen die
Anordnung der Meiſter eingenommen waren. Konnte man ſich
nicht einigen, ſo zogen die Geſellen in Maſſe aus der Stadt,
erließen aber vorher Laufſchreiben an die Brüderſchaften ihres
Handwerks in den nächſten und entfernteſten Städten, worin ſie
dieſen unterſagten, ſo lange in der betreffenden Stadt zu arbei-
ten, bis die Meiſter ihren Beſchluß würden zurückgenommen
haben. Ein ſolcher Aufſtand oder Verruf nahm mehr oder we-
niger einen politiſchen Charakter an, er verletzte die Privilegien
der betreffenden Innung in allen Staaten, die Landeshoheit der
Fürſten, und ſtörte den Frieden vieler Hundert Familien, denn
auch die eingebornen Geſellen der betreffenden Stadt mußten
der größern Maſſe folgen, wenn ſie ſich nicht der Verachtung
und Rache derſelben auf ihrer künftigen Wanderſchaft ausſetzen
wollten. Ein ſolcher Aufſtand wurde noch bedenklicher, wenn
die Orts-Obrigkeit Veranlaſſung dazu gegeben hatte, und die
Meiſter ſich der Geſellen nicht annahmen. Dieſer Fall ereignete
ſich 1725 unter den Schuhmachern in Augsburg. Die Hand-
werksgeſellen mögen hin und wieder in ähnliche Verirrungen ge-
fallen ſein, aber keine hat der Innungsverfaſſung ſo ſehr geſcha-
det, als dieſe, denn ſie iſt unbezweifelt die nächſte Veranlaſſung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0116" n="106"/>
der Stadt, bei ihm zu arbeiten, bis die Sache bei der Innung<lb/>
unter&#x017F;ucht und ausgeglichen war. Zu die&#x017F;er Kla&#x017F;&#x017F;e gehört auch,<lb/>
wenn ein Mei&#x017F;ter von der Innung &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;cholten wurde, in<lb/>
die&#x017F;em Fall durften die Ge&#x017F;ellen nur mit Erlaubniß des Ober-<lb/>
mei&#x017F;ters bei ihm bleiben.</p><lb/>
        <p>Die zweite Kla&#x017F;&#x017F;e ereignete &#x017F;ich, wenn die Mei&#x017F;ter einen<lb/>
gemein&#x017F;amen Be&#x017F;chluß über eine vorzunehmende Veränderung in<lb/>
den Verhältni&#x017F;&#x017F;en der Ge&#x017F;ellen zu ihnen, gefaßt hatten, mit dem<lb/>
die&#x017F;e nicht einver&#x017F;tanden waren und der auf ihre Vor&#x017F;tellung nicht<lb/>
zurückgenommen wurde. Dahin gehören: Vermehrung der Ar-<lb/>
beits&#x017F;tunden, Herab&#x017F;etzung des Lohns, Verlegung der Auflage-<lb/>
termine, Be&#x017F;chränkung des Gebrauchs des Brüder&#x017F;chafts&#x017F;iegels,<lb/>
und der Feier gewi&#x017F;&#x017F;er Tage, dritter Feiertag, blauer Montag,<lb/>
ver&#x017F;agtes Gehör bei der Innung oder Abwei&#x017F;ung &#xA75B;c. Jede die&#x017F;er<lb/>
Vorfallenheiten war geeignet, einen allgemeinen Auf&#x017F;tand unter<lb/>
ihnen hervorzurufen, be&#x017F;onders wenn die Altge&#x017F;ellen gegen die<lb/>
Anordnung der Mei&#x017F;ter eingenommen waren. Konnte man &#x017F;ich<lb/>
nicht einigen, &#x017F;o zogen die Ge&#x017F;ellen in Ma&#x017F;&#x017F;e aus der Stadt,<lb/>
erließen aber vorher Lauf&#x017F;chreiben an die Brüder&#x017F;chaften ihres<lb/>
Handwerks in den näch&#x017F;ten und entfernte&#x017F;ten Städten, worin &#x017F;ie<lb/>
die&#x017F;en unter&#x017F;agten, &#x017F;o lange in der betreffenden Stadt zu arbei-<lb/>
ten, bis die Mei&#x017F;ter ihren Be&#x017F;chluß würden zurückgenommen<lb/>
haben. Ein &#x017F;olcher Auf&#x017F;tand oder Verruf nahm mehr oder we-<lb/>
niger einen politi&#x017F;chen Charakter an, er verletzte die Privilegien<lb/>
der betreffenden Innung in allen Staaten, die Landeshoheit der<lb/>
Für&#x017F;ten, und &#x017F;törte den Frieden vieler Hundert Familien, denn<lb/>
auch die eingebornen Ge&#x017F;ellen der betreffenden Stadt mußten<lb/>
der größern Ma&#x017F;&#x017F;e folgen, wenn &#x017F;ie &#x017F;ich nicht der Verachtung<lb/>
und Rache der&#x017F;elben auf ihrer künftigen Wander&#x017F;chaft aus&#x017F;etzen<lb/>
wollten. Ein &#x017F;olcher Auf&#x017F;tand wurde noch bedenklicher, wenn<lb/>
die Orts-Obrigkeit Veranla&#x017F;&#x017F;ung dazu gegeben hatte, und die<lb/>
Mei&#x017F;ter &#x017F;ich der Ge&#x017F;ellen nicht annahmen. Die&#x017F;er Fall ereignete<lb/>
&#x017F;ich 1725 unter den Schuhmachern in Augsburg. Die Hand-<lb/>
werksge&#x017F;ellen mögen hin und wieder in ähnliche Verirrungen ge-<lb/>
fallen &#x017F;ein, aber keine hat der Innungsverfa&#x017F;&#x017F;ung &#x017F;o &#x017F;ehr ge&#x017F;cha-<lb/>
det, als die&#x017F;e, denn &#x017F;ie i&#x017F;t unbezweifelt die näch&#x017F;te Veranla&#x017F;&#x017F;ung<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[106/0116] der Stadt, bei ihm zu arbeiten, bis die Sache bei der Innung unterſucht und ausgeglichen war. Zu dieſer Klaſſe gehört auch, wenn ein Meiſter von der Innung ſelbſt geſcholten wurde, in dieſem Fall durften die Geſellen nur mit Erlaubniß des Ober- meiſters bei ihm bleiben. Die zweite Klaſſe ereignete ſich, wenn die Meiſter einen gemeinſamen Beſchluß über eine vorzunehmende Veränderung in den Verhältniſſen der Geſellen zu ihnen, gefaßt hatten, mit dem dieſe nicht einverſtanden waren und der auf ihre Vorſtellung nicht zurückgenommen wurde. Dahin gehören: Vermehrung der Ar- beitsſtunden, Herabſetzung des Lohns, Verlegung der Auflage- termine, Beſchränkung des Gebrauchs des Brüderſchaftsſiegels, und der Feier gewiſſer Tage, dritter Feiertag, blauer Montag, verſagtes Gehör bei der Innung oder Abweiſung ꝛc. Jede dieſer Vorfallenheiten war geeignet, einen allgemeinen Aufſtand unter ihnen hervorzurufen, beſonders wenn die Altgeſellen gegen die Anordnung der Meiſter eingenommen waren. Konnte man ſich nicht einigen, ſo zogen die Geſellen in Maſſe aus der Stadt, erließen aber vorher Laufſchreiben an die Brüderſchaften ihres Handwerks in den nächſten und entfernteſten Städten, worin ſie dieſen unterſagten, ſo lange in der betreffenden Stadt zu arbei- ten, bis die Meiſter ihren Beſchluß würden zurückgenommen haben. Ein ſolcher Aufſtand oder Verruf nahm mehr oder we- niger einen politiſchen Charakter an, er verletzte die Privilegien der betreffenden Innung in allen Staaten, die Landeshoheit der Fürſten, und ſtörte den Frieden vieler Hundert Familien, denn auch die eingebornen Geſellen der betreffenden Stadt mußten der größern Maſſe folgen, wenn ſie ſich nicht der Verachtung und Rache derſelben auf ihrer künftigen Wanderſchaft ausſetzen wollten. Ein ſolcher Aufſtand wurde noch bedenklicher, wenn die Orts-Obrigkeit Veranlaſſung dazu gegeben hatte, und die Meiſter ſich der Geſellen nicht annahmen. Dieſer Fall ereignete ſich 1725 unter den Schuhmachern in Augsburg. Die Hand- werksgeſellen mögen hin und wieder in ähnliche Verirrungen ge- fallen ſein, aber keine hat der Innungsverfaſſung ſo ſehr geſcha- det, als dieſe, denn ſie iſt unbezweifelt die nächſte Veranlaſſung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stock_gesellenwesen_1844
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stock_gesellenwesen_1844/116
Zitationshilfe: Stock, Ch. L.: Grundzüge der Verfassung des Gesellenwesens der deutschen Handwerker in alter und neuer Zeit. Magdeburg, 1844, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stock_gesellenwesen_1844/116>, abgerufen am 20.04.2024.