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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Mensch mehr. Man sollte sich doch durch solche Erscheinungen,
die heutiges Tages allerdings nicht mehr zu den seltenen ge¬
hören, nicht irre führen lassen, und bedenken, daß, wer der
Sittlichkeit etwas vergiebt, so wenig zu den wahrhaft Sittlichen
gezählt werden kann, als Lessing, der in der bekannten Para¬
bel die christliche Religion, so gut als die muhamedanische
und jüdische, einem "unächten Ringe" vergleicht, ein frommer
Christ war. Oft sind die Leute schon weiter, als sie sich's
zu gestehen getrauen. -- Für Sokrates wäre es, weil er auf
der Bildungsstufe der Sittlichkeit stand, eine Unsittlichkeit ge¬
wesen, wenn er der verführerischen Zusprache Kritons hätte
folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das
einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil So¬
krates -- ein sittlicher Mensch war. Die "sittenlosen, ruchlosen"
Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig XVI. Treue ge¬
schworen, und decretirten seine Absetzung, ja seinen Tod, die
That war aber eine unsittliche, worüber die Sittlichen sich in
alle Ewigkeit entsetzen werden.


Mehr oder weniger trifft jedoch dieß alles nur die "bür¬
gerliche Sittlichkeit", auf welche die Freieren mit Verachtung
herabsehen. Sie ist nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit,
ihr heimischer Boden, von dem religiösen Himmel noch zu
wenig entfernt und frei, um nicht die Gesetze desselben kritiklos
und ohne Weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen,
statt eigene und selbstständige Lehren zu erzeugen. Ganz an¬
ders nimmt sich die Sittlichkeit aus, wenn sie zum Bewußtsein
ihrer Würde gelangt, und ihr Princip, das Wesen des Men¬
schen oder "den Menschen", zum einzigen Maaßgebenden erhebt.

Menſch mehr. Man ſollte ſich doch durch ſolche Erſcheinungen,
die heutiges Tages allerdings nicht mehr zu den ſeltenen ge¬
hören, nicht irre führen laſſen, und bedenken, daß, wer der
Sittlichkeit etwas vergiebt, ſo wenig zu den wahrhaft Sittlichen
gezählt werden kann, als Leſſing, der in der bekannten Para¬
bel die chriſtliche Religion, ſo gut als die muhamedaniſche
und jüdiſche, einem „unächten Ringe“ vergleicht, ein frommer
Chriſt war. Oft ſind die Leute ſchon weiter, als ſie ſich's
zu geſtehen getrauen. — Für Sokrates wäre es, weil er auf
der Bildungsſtufe der Sittlichkeit ſtand, eine Unſittlichkeit ge¬
weſen, wenn er der verführeriſchen Zuſprache Kritons hätte
folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das
einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil So¬
krates — ein ſittlicher Menſch war. Die „ſittenloſen, ruchloſen“
Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig XVI. Treue ge¬
ſchworen, und decretirten ſeine Abſetzung, ja ſeinen Tod, die
That war aber eine unſittliche, worüber die Sittlichen ſich in
alle Ewigkeit entſetzen werden.


Mehr oder weniger trifft jedoch dieß alles nur die „bür¬
gerliche Sittlichkeit“, auf welche die Freieren mit Verachtung
herabſehen. Sie iſt nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit,
ihr heimiſcher Boden, von dem religiöſen Himmel noch zu
wenig entfernt und frei, um nicht die Geſetze deſſelben kritiklos
und ohne Weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen,
ſtatt eigene und ſelbſtſtändige Lehren zu erzeugen. Ganz an¬
ders nimmt ſich die Sittlichkeit aus, wenn ſie zum Bewußtſein
ihrer Würde gelangt, und ihr Princip, das Weſen des Men¬
ſchen oder „den Menſchen“, zum einzigen Maaßgebenden erhebt.

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[74/0082] Menſch mehr. Man ſollte ſich doch durch ſolche Erſcheinungen, die heutiges Tages allerdings nicht mehr zu den ſeltenen ge¬ hören, nicht irre führen laſſen, und bedenken, daß, wer der Sittlichkeit etwas vergiebt, ſo wenig zu den wahrhaft Sittlichen gezählt werden kann, als Leſſing, der in der bekannten Para¬ bel die chriſtliche Religion, ſo gut als die muhamedaniſche und jüdiſche, einem „unächten Ringe“ vergleicht, ein frommer Chriſt war. Oft ſind die Leute ſchon weiter, als ſie ſich's zu geſtehen getrauen. — Für Sokrates wäre es, weil er auf der Bildungsſtufe der Sittlichkeit ſtand, eine Unſittlichkeit ge¬ weſen, wenn er der verführeriſchen Zuſprache Kritons hätte folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil So¬ krates — ein ſittlicher Menſch war. Die „ſittenloſen, ruchloſen“ Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig XVI. Treue ge¬ ſchworen, und decretirten ſeine Abſetzung, ja ſeinen Tod, die That war aber eine unſittliche, worüber die Sittlichen ſich in alle Ewigkeit entſetzen werden. Mehr oder weniger trifft jedoch dieß alles nur die „bür¬ gerliche Sittlichkeit“, auf welche die Freieren mit Verachtung herabſehen. Sie iſt nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit, ihr heimiſcher Boden, von dem religiöſen Himmel noch zu wenig entfernt und frei, um nicht die Geſetze deſſelben kritiklos und ohne Weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen, ſtatt eigene und ſelbſtſtändige Lehren zu erzeugen. Ganz an¬ ders nimmt ſich die Sittlichkeit aus, wenn ſie zum Bewußtſein ihrer Würde gelangt, und ihr Princip, das Weſen des Men¬ ſchen oder „den Menſchen“, zum einzigen Maaßgebenden erhebt.

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/82>, abgerufen am 28.03.2024.