Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

thut das öfter als Ihr Sittenrichter, ja noch mehr als das,
einen ehrlichen Mann, der offen gegen die bestehende Staats¬
verfassung, gegen die geheiligten Institutionen u. s. w. redet,
den sperrt Ihr ein als Verbrecher, und einem verschmitzten
Schurken überlaßt Ihr Portefeuille und noch wichtigere Dinge.
Also in praxi habt Ihr Mir nichts vorzuwerfen. "Aber in
der Theorie!" Nun, da stelle ich beide in der That auf eine
Linie als zwei entgegengesetzte Pole: beide nämlich auf die
Linie des Sittengesetzes. Sie haben beide nur Sinn in der
"sittlichen" Welt, gerade so, wie in der vorchristlichen Zeit ein
gesetzlicher Jude und ein ungesetzlicher nur Sinn und Bedeu¬
tung hatten in Bezug auf das jüdische Gesetz, dagegen vor
Christus der Pharisäer nicht mehr war, als die "Sünder und
Zöllner". So gilt auch vor der Eigenheit der sittliche Pha¬
risäer so viel, als der unsittliche Sünder.

Nero wurde durch seine Besessenheit sehr unbequem. Ihm
würde aber ein eigener Mensch nicht alberner Weise das
"Heilige" entgegensetzen, um zu jammern, wenn der Tyrann
des Heiligen nicht achtet, sondern seinen Willen. Wie oft
wird die Heiligkeit der unveräußerlichen Menschenrechte den
Feinden derselben vorgehalten und irgend eine Freiheit als ein
"heiliges Menschenrecht" erwiesen und vordemonstrirt. Die
das thun, verdienen ausgelacht zu werden, wie's ihnen wirk¬
lich geschieht, wenn sie nicht eigentlich doch, sei's auch unbe¬
wußt, den zum Ziele führenden Weg einschlügen. Sie ahnen
es, daß, wenn nur erst die Mehrzahl für jene Freiheit gewon¬
nen ist, sie auch dieselbe wollen und dann nehmen wird, was
sie haben will. Die Heiligkeit der Freiheit und alle mögli¬
chen Beweise dieser Heiligkeit werden sie niemals verschaffen:
das Lamentiren und Petitioniren zeigt eben nur Bettler.

thut das öfter als Ihr Sittenrichter, ja noch mehr als das,
einen ehrlichen Mann, der offen gegen die beſtehende Staats¬
verfaſſung, gegen die geheiligten Inſtitutionen u. ſ. w. redet,
den ſperrt Ihr ein als Verbrecher, und einem verſchmitzten
Schurken überlaßt Ihr Portefeuille und noch wichtigere Dinge.
Alſo in praxi habt Ihr Mir nichts vorzuwerfen. „Aber in
der Theorie!“ Nun, da ſtelle ich beide in der That auf eine
Linie als zwei entgegengeſetzte Pole: beide nämlich auf die
Linie des Sittengeſetzes. Sie haben beide nur Sinn in der
„ſittlichen“ Welt, gerade ſo, wie in der vorchriſtlichen Zeit ein
geſetzlicher Jude und ein ungeſetzlicher nur Sinn und Bedeu¬
tung hatten in Bezug auf das jüdiſche Geſetz, dagegen vor
Chriſtus der Phariſäer nicht mehr war, als die „Sünder und
Zöllner“. So gilt auch vor der Eigenheit der ſittliche Pha¬
riſäer ſo viel, als der unſittliche Sünder.

Nero wurde durch ſeine Beſeſſenheit ſehr unbequem. Ihm
würde aber ein eigener Menſch nicht alberner Weiſe das
„Heilige“ entgegenſetzen, um zu jammern, wenn der Tyrann
des Heiligen nicht achtet, ſondern ſeinen Willen. Wie oft
wird die Heiligkeit der unveräußerlichen Menſchenrechte den
Feinden derſelben vorgehalten und irgend eine Freiheit als ein
„heiliges Menſchenrecht“ erwieſen und vordemonſtrirt. Die
das thun, verdienen ausgelacht zu werden, wie's ihnen wirk¬
lich geſchieht, wenn ſie nicht eigentlich doch, ſei's auch unbe¬
wußt, den zum Ziele führenden Weg einſchlügen. Sie ahnen
es, daß, wenn nur erſt die Mehrzahl für jene Freiheit gewon¬
nen iſt, ſie auch dieſelbe wollen und dann nehmen wird, was
ſie haben will. Die Heiligkeit der Freiheit und alle mögli¬
chen Beweiſe dieſer Heiligkeit werden ſie niemals verſchaffen:
das Lamentiren und Petitioniren zeigt eben nur Bettler.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0080" n="72"/>
thut das öfter als Ihr Sittenrichter, ja noch mehr als das,<lb/>
einen ehrlichen Mann, der offen gegen die be&#x017F;tehende Staats¬<lb/>
verfa&#x017F;&#x017F;ung, gegen die geheiligten In&#x017F;titutionen u. &#x017F;. w. redet,<lb/>
den &#x017F;perrt Ihr ein als Verbrecher, und einem ver&#x017F;chmitzten<lb/>
Schurken überlaßt Ihr Portefeuille und noch wichtigere Dinge.<lb/>
Al&#x017F;o <hi rendition="#aq">in praxi</hi> habt Ihr Mir nichts vorzuwerfen. &#x201E;Aber in<lb/>
der Theorie!&#x201C; Nun, da &#x017F;telle ich beide in der That auf eine<lb/>
Linie als zwei entgegenge&#x017F;etzte Pole: beide nämlich auf die<lb/>
Linie des Sittenge&#x017F;etzes. Sie haben beide nur Sinn in der<lb/>
&#x201E;&#x017F;ittlichen&#x201C; Welt, gerade &#x017F;o, wie in der vorchri&#x017F;tlichen Zeit ein<lb/>
ge&#x017F;etzlicher Jude und ein unge&#x017F;etzlicher nur Sinn und Bedeu¬<lb/>
tung hatten in Bezug auf das jüdi&#x017F;che Ge&#x017F;etz, dagegen vor<lb/>
Chri&#x017F;tus der Phari&#x017F;äer nicht mehr war, als die &#x201E;Sünder und<lb/>
Zöllner&#x201C;. So gilt auch vor der Eigenheit der &#x017F;ittliche Pha¬<lb/>
ri&#x017F;äer &#x017F;o viel, als der un&#x017F;ittliche Sünder.</p><lb/>
                <p>Nero wurde durch &#x017F;eine Be&#x017F;e&#x017F;&#x017F;enheit &#x017F;ehr unbequem. Ihm<lb/>
würde aber ein eigener Men&#x017F;ch nicht alberner Wei&#x017F;e das<lb/>
&#x201E;Heilige&#x201C; entgegen&#x017F;etzen, um zu jammern, wenn der Tyrann<lb/>
des Heiligen nicht achtet, &#x017F;ondern &#x017F;einen Willen. Wie oft<lb/>
wird die Heiligkeit der unveräußerlichen Men&#x017F;chenrechte den<lb/>
Feinden der&#x017F;elben vorgehalten und irgend eine Freiheit als ein<lb/>
&#x201E;heiliges Men&#x017F;chenrecht&#x201C; erwie&#x017F;en und vordemon&#x017F;trirt. Die<lb/>
das thun, verdienen ausgelacht zu werden, wie's ihnen wirk¬<lb/>
lich ge&#x017F;chieht, wenn &#x017F;ie nicht eigentlich doch, &#x017F;ei's auch unbe¬<lb/>
wußt, den zum Ziele führenden Weg ein&#x017F;chlügen. Sie ahnen<lb/>
es, daß, wenn nur er&#x017F;t die Mehrzahl für jene Freiheit gewon¬<lb/>
nen i&#x017F;t, &#x017F;ie auch die&#x017F;elbe wollen und dann nehmen wird, was<lb/>
&#x017F;ie haben <hi rendition="#g">will</hi>. Die Heiligkeit der Freiheit und alle mögli¬<lb/>
chen Bewei&#x017F;e die&#x017F;er Heiligkeit werden &#x017F;ie niemals ver&#x017F;chaffen:<lb/>
das Lamentiren und Petitioniren zeigt eben nur Bettler.</p><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0080] thut das öfter als Ihr Sittenrichter, ja noch mehr als das, einen ehrlichen Mann, der offen gegen die beſtehende Staats¬ verfaſſung, gegen die geheiligten Inſtitutionen u. ſ. w. redet, den ſperrt Ihr ein als Verbrecher, und einem verſchmitzten Schurken überlaßt Ihr Portefeuille und noch wichtigere Dinge. Alſo in praxi habt Ihr Mir nichts vorzuwerfen. „Aber in der Theorie!“ Nun, da ſtelle ich beide in der That auf eine Linie als zwei entgegengeſetzte Pole: beide nämlich auf die Linie des Sittengeſetzes. Sie haben beide nur Sinn in der „ſittlichen“ Welt, gerade ſo, wie in der vorchriſtlichen Zeit ein geſetzlicher Jude und ein ungeſetzlicher nur Sinn und Bedeu¬ tung hatten in Bezug auf das jüdiſche Geſetz, dagegen vor Chriſtus der Phariſäer nicht mehr war, als die „Sünder und Zöllner“. So gilt auch vor der Eigenheit der ſittliche Pha¬ riſäer ſo viel, als der unſittliche Sünder. Nero wurde durch ſeine Beſeſſenheit ſehr unbequem. Ihm würde aber ein eigener Menſch nicht alberner Weiſe das „Heilige“ entgegenſetzen, um zu jammern, wenn der Tyrann des Heiligen nicht achtet, ſondern ſeinen Willen. Wie oft wird die Heiligkeit der unveräußerlichen Menſchenrechte den Feinden derſelben vorgehalten und irgend eine Freiheit als ein „heiliges Menſchenrecht“ erwieſen und vordemonſtrirt. Die das thun, verdienen ausgelacht zu werden, wie's ihnen wirk¬ lich geſchieht, wenn ſie nicht eigentlich doch, ſei's auch unbe¬ wußt, den zum Ziele führenden Weg einſchlügen. Sie ahnen es, daß, wenn nur erſt die Mehrzahl für jene Freiheit gewon¬ nen iſt, ſie auch dieſelbe wollen und dann nehmen wird, was ſie haben will. Die Heiligkeit der Freiheit und alle mögli¬ chen Beweiſe dieſer Heiligkeit werden ſie niemals verſchaffen: das Lamentiren und Petitioniren zeigt eben nur Bettler.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/80
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/80>, abgerufen am 23.04.2024.