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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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derung entgegen, nicht ihren Willen; sie seufzten darüber,
daß ihr Kaiser nicht der Sittlichkeit huldige wie sie: sie selber
blieben "sittliche Unterthanen", bis endlich Einer den Muth
fand, die "sittliche, gehorsame Unterthänigkeit" aufzugeben.
Und dann jauchzten dieselben "guten Römer", die als "gehor¬
same Unterthanen" alle Schmach der Willenlosigkeit ertragen
hatten, über die frevelhafte, unsittliche That des Empörers.
Wo war denn bei den "Guten" der Muth zur Revolution,
den sie jetzt priesen, nachdem ein Anderer ihn gefaßt hatte?
Die Guten konnten diesen Muth nicht haben, denn eine Revo¬
lution, und gar eine Insurrection, ist immer etwas "Unsitt¬
liches", wozu man sich nur entschließen kann, wenn man auf¬
hört, "gut" zu sein, und entweder "böse" wird, oder -- keins
von beiden. Nero war nicht schlimmer als seine Zeit, in der
man nur eins von beiden sein konnte, gut oder böse. Seine
Zeit mußte von ihm urtheilen: er sei böse, und zwar im höch¬
sten Grate, nicht ein Flauer, sondern ein Erzböser. Alle Sitt¬
lichen können nur dieses Urtheil über ihn fällen. Schurken,
wie er war, leben heute noch mitunter fort (siehe z. B. Me¬
moiren des Ritters von Lang.) inmitten der Sittlichen. Be¬
quem lebt sich's allerdings unter ihnen nicht, da man keinen
Augenblick seines Lebens sicher ist; allein lebt man unter den
Sittlichen etwa bequemer? Seines Lebens ist man da eben
so wenig sicher, nur daß man "im Wege Rechtens" gehängt
wird, seiner Ehre aber ist man am wenigsten sicher, und die
Nationalkokarde fliegt im Umsehen davon. Die derbe Faust
der Sittlichkeit geht gar unbarmherzig mit dem edlen Wesen
des Egoismus um.

"Aber man kann doch nicht einen Schurken und einen
ehrlichen Mann auf gleiche Linie stellen!" Nun, kein Mensch

derung entgegen, nicht ihren Willen; ſie ſeufzten darüber,
daß ihr Kaiſer nicht der Sittlichkeit huldige wie ſie: ſie ſelber
blieben „ſittliche Unterthanen“, bis endlich Einer den Muth
fand, die „ſittliche, gehorſame Unterthänigkeit“ aufzugeben.
Und dann jauchzten dieſelben „guten Römer“, die als „gehor¬
ſame Unterthanen“ alle Schmach der Willenloſigkeit ertragen
hatten, über die frevelhafte, unſittliche That des Empörers.
Wo war denn bei den „Guten“ der Muth zur Revolution,
den ſie jetzt prieſen, nachdem ein Anderer ihn gefaßt hatte?
Die Guten konnten dieſen Muth nicht haben, denn eine Revo¬
lution, und gar eine Inſurrection, iſt immer etwas „Unſitt¬
liches“, wozu man ſich nur entſchließen kann, wenn man auf¬
hört, „gut“ zu ſein, und entweder „böſe“ wird, oder — keins
von beiden. Nero war nicht ſchlimmer als ſeine Zeit, in der
man nur eins von beiden ſein konnte, gut oder böſe. Seine
Zeit mußte von ihm urtheilen: er ſei böſe, und zwar im höch¬
ſten Grate, nicht ein Flauer, ſondern ein Erzböſer. Alle Sitt¬
lichen können nur dieſes Urtheil über ihn fällen. Schurken,
wie er war, leben heute noch mitunter fort (ſiehe z. B. Me¬
moiren des Ritters von Lang.) inmitten der Sittlichen. Be¬
quem lebt ſich's allerdings unter ihnen nicht, da man keinen
Augenblick ſeines Lebens ſicher iſt; allein lebt man unter den
Sittlichen etwa bequemer? Seines Lebens iſt man da eben
ſo wenig ſicher, nur daß man „im Wege Rechtens“ gehängt
wird, ſeiner Ehre aber iſt man am wenigſten ſicher, und die
Nationalkokarde fliegt im Umſehen davon. Die derbe Fauſt
der Sittlichkeit geht gar unbarmherzig mit dem edlen Weſen
des Egoismus um.

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[71/0079] derung entgegen, nicht ihren Willen; ſie ſeufzten darüber, daß ihr Kaiſer nicht der Sittlichkeit huldige wie ſie: ſie ſelber blieben „ſittliche Unterthanen“, bis endlich Einer den Muth fand, die „ſittliche, gehorſame Unterthänigkeit“ aufzugeben. Und dann jauchzten dieſelben „guten Römer“, die als „gehor¬ ſame Unterthanen“ alle Schmach der Willenloſigkeit ertragen hatten, über die frevelhafte, unſittliche That des Empörers. Wo war denn bei den „Guten“ der Muth zur Revolution, den ſie jetzt prieſen, nachdem ein Anderer ihn gefaßt hatte? Die Guten konnten dieſen Muth nicht haben, denn eine Revo¬ lution, und gar eine Inſurrection, iſt immer etwas „Unſitt¬ liches“, wozu man ſich nur entſchließen kann, wenn man auf¬ hört, „gut“ zu ſein, und entweder „böſe“ wird, oder — keins von beiden. Nero war nicht ſchlimmer als ſeine Zeit, in der man nur eins von beiden ſein konnte, gut oder böſe. Seine Zeit mußte von ihm urtheilen: er ſei böſe, und zwar im höch¬ ſten Grate, nicht ein Flauer, ſondern ein Erzböſer. Alle Sitt¬ lichen können nur dieſes Urtheil über ihn fällen. Schurken, wie er war, leben heute noch mitunter fort (ſiehe z. B. Me¬ moiren des Ritters von Lang.) inmitten der Sittlichen. Be¬ quem lebt ſich's allerdings unter ihnen nicht, da man keinen Augenblick ſeines Lebens ſicher iſt; allein lebt man unter den Sittlichen etwa bequemer? Seines Lebens iſt man da eben ſo wenig ſicher, nur daß man „im Wege Rechtens“ gehängt wird, ſeiner Ehre aber iſt man am wenigſten ſicher, und die Nationalkokarde fliegt im Umſehen davon. Die derbe Fauſt der Sittlichkeit geht gar unbarmherzig mit dem edlen Weſen des Egoismus um. „Aber man kann doch nicht einen Schurken und einen ehrlichen Mann auf gleiche Linie ſtellen!“ Nun, kein Menſch

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/79>, abgerufen am 19.04.2024.