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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Was zuerst für Existenz galt, wie Welt u. dergl., das
erscheint jetzt als bloßer Schein, und das wahrhaft Exi¬
stirende ist vielmehr das Wesen, dessen Reich sich füllt mit
Göttern, Geistern, Dämonen, d.h. mit guten oder bösen We¬
sen. Nur diese verkehrte Welt, die Welt der Wesen, existirt
jetzt wahrhaft. Das menschliche Herz kann lieblos sein, aber
sein Wesen existirt, der Gott, "der die Liebe ist"; das mensch¬
liche Denken kann im Irrthum wandeln, aber sein Wesen, die
Wahrheit existirt: "Gott ist die Wahrheit" u.s.w.

Die Wesen allein und nichts als die Wesen zu erkennen
und anzuerkennen, das ist Religion: ihr Reich ein Reich der
Wesen, des Spukes und der Gespenster.

Der Drang, den Spuk faßbar zu machen, oder den non¬
sens
zu realisiren, hat ein leibhaftiges Gespenst zu Wege
gebracht, ein Gespenst oder einen Geist mit einem wirklichen
Leibe, ein beleibtes Gespenst. Wie haben sich die kräftig¬
sten genialsten Christenmenschen abgemartert, um diese gespen¬
stische Erscheinung zu begreifen. Es blieb aber stets der Wi¬
derspruch zweier Naturen, der göttlichen und menschlichen, d.h.
der gespenstischen und sinnlichen: es blieb der wundersamste
Spuk, ein Unding. Seelenmarternder war noch nie ein Ge¬
spenst, und kein Schamane, der bis zu rasender Wuth und
nervenzerreißenden Krämpfen sich stachelt, um ein Gespenst zu
bannen, kann solche Seelenqual erdulden, wie Christen sie von
jenem unbegreiflichsten Gespenst erlitten.

Allein durch Christus war zugleich die Wahrheit der Sache
zu Tage gekommen, daß der eigentliche Geist oder das eigent¬
liche Gespenst -- der Mensch sei. Der leibhaftige oder
beleibte Geist ist eben der Mensch: er selbst das grauenhafte
Wesen und zugleich des Wesens Erscheinung und Existenz oder

Was zuerſt für Exiſtenz galt, wie Welt u. dergl., das
erſcheint jetzt als bloßer Schein, und das wahrhaft Exi¬
ſtirende iſt vielmehr das Weſen, deſſen Reich ſich füllt mit
Göttern, Geiſtern, Dämonen, d.h. mit guten oder böſen We¬
ſen. Nur dieſe verkehrte Welt, die Welt der Weſen, exiſtirt
jetzt wahrhaft. Das menſchliche Herz kann lieblos ſein, aber
ſein Weſen exiſtirt, der Gott, „der die Liebe iſt“; das menſch¬
liche Denken kann im Irrthum wandeln, aber ſein Weſen, die
Wahrheit exiſtirt: „Gott iſt die Wahrheit“ u.ſ.w.

Die Weſen allein und nichts als die Weſen zu erkennen
und anzuerkennen, das iſt Religion: ihr Reich ein Reich der
Weſen, des Spukes und der Geſpenſter.

Der Drang, den Spuk faßbar zu machen, oder den non¬
sens
zu realiſiren, hat ein leibhaftiges Geſpenſt zu Wege
gebracht, ein Geſpenſt oder einen Geiſt mit einem wirklichen
Leibe, ein beleibtes Geſpenſt. Wie haben ſich die kräftig¬
ſten genialſten Chriſtenmenſchen abgemartert, um dieſe geſpen¬
ſtiſche Erſcheinung zu begreifen. Es blieb aber ſtets der Wi¬
derſpruch zweier Naturen, der göttlichen und menſchlichen, d.h.
der geſpenſtiſchen und ſinnlichen: es blieb der wunderſamſte
Spuk, ein Unding. Seelenmarternder war noch nie ein Ge¬
ſpenſt, und kein Schamane, der bis zu raſender Wuth und
nervenzerreißenden Krämpfen ſich ſtachelt, um ein Geſpenſt zu
bannen, kann ſolche Seelenqual erdulden, wie Chriſten ſie von
jenem unbegreiflichſten Geſpenſt erlitten.

Allein durch Chriſtus war zugleich die Wahrheit der Sache
zu Tage gekommen, daß der eigentliche Geiſt oder das eigent¬
liche Geſpenſt — der Menſch ſei. Der leibhaftige oder
beleibte Geiſt iſt eben der Menſch: er ſelbſt das grauenhafte
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[54/0062] Was zuerſt für Exiſtenz galt, wie Welt u. dergl., das erſcheint jetzt als bloßer Schein, und das wahrhaft Exi¬ ſtirende iſt vielmehr das Weſen, deſſen Reich ſich füllt mit Göttern, Geiſtern, Dämonen, d.h. mit guten oder böſen We¬ ſen. Nur dieſe verkehrte Welt, die Welt der Weſen, exiſtirt jetzt wahrhaft. Das menſchliche Herz kann lieblos ſein, aber ſein Weſen exiſtirt, der Gott, „der die Liebe iſt“; das menſch¬ liche Denken kann im Irrthum wandeln, aber ſein Weſen, die Wahrheit exiſtirt: „Gott iſt die Wahrheit“ u.ſ.w. Die Weſen allein und nichts als die Weſen zu erkennen und anzuerkennen, das iſt Religion: ihr Reich ein Reich der Weſen, des Spukes und der Geſpenſter. Der Drang, den Spuk faßbar zu machen, oder den non¬ sens zu realiſiren, hat ein leibhaftiges Geſpenſt zu Wege gebracht, ein Geſpenſt oder einen Geiſt mit einem wirklichen Leibe, ein beleibtes Geſpenſt. Wie haben ſich die kräftig¬ ſten genialſten Chriſtenmenſchen abgemartert, um dieſe geſpen¬ ſtiſche Erſcheinung zu begreifen. Es blieb aber ſtets der Wi¬ derſpruch zweier Naturen, der göttlichen und menſchlichen, d.h. der geſpenſtiſchen und ſinnlichen: es blieb der wunderſamſte Spuk, ein Unding. Seelenmarternder war noch nie ein Ge¬ ſpenſt, und kein Schamane, der bis zu raſender Wuth und nervenzerreißenden Krämpfen ſich ſtachelt, um ein Geſpenſt zu bannen, kann ſolche Seelenqual erdulden, wie Chriſten ſie von jenem unbegreiflichſten Geſpenſt erlitten. Allein durch Chriſtus war zugleich die Wahrheit der Sache zu Tage gekommen, daß der eigentliche Geiſt oder das eigent¬ liche Geſpenſt — der Menſch ſei. Der leibhaftige oder beleibte Geiſt iſt eben der Menſch: er ſelbſt das grauenhafte Weſen und zugleich des Weſens Erſcheinung und Exiſtenz oder

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/62>, abgerufen am 29.03.2024.