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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Jedoch wozu diese Würdigung eines Wortes? Hielte
sich nicht der folgenreichste Mißverstand von Jahrtausenden
dahinter versteckt, spukte nicht aller Spuk der besessenen Men¬
schen in diesem einzigen Begriffe des Wörtleins "möglich", so
sollte Uns seine Betrachtung hier wenig kümmern.

Der Gedanke, wurde eben gezeigt, beherrscht die besessene
Welt. Nun denn, die Möglichkeit ist nichts anders, als die
Denkbarkeit, und der gräßlichen Denkbarkeit sind seither
unzählige Opfer gefallen. Es war denkbar, daß die Men¬
schen vernünftig werden könnten, denkbar, daß sie Christum er¬
kennen, denkbar, daß sie für das Gute sich begeistern und
sittlich werden, denkbar, daß sie alle in den Schooß der Kirche
sich flüchten, denkbar, daß sie nichts Staatsgefährliches sinnen,
sprechen und thun, denkbar, daß sie gehorsame Unterthanen
sein könnten: darum aber, weil es denkbar war, war es --
so lautete der Schluß -- möglich, und weiter, weil es den
Menschen möglich war (hier eben liegt das Trügerische: weil
es Mir denkbar ist, ist es den Menschen möglich), so soll¬
ten
sie es sein, so war es ihr Beruf; und endlich -- nur
nach diesem Berufe, nur als Berufene, hat man die Men¬
schen zu nehmen, nicht "wie sie sind, sondern wie sie sein
sollen".

Und der weitere Schluß? Nicht der Einzelne ist der
Mensch, sondern ein Gedanke, ein Ideal ist der Mensch,
zu dem der Einzelne sich nicht einmal so verhält, wie das
Kind zum Manne, sondern wie ein Kreidepunkt zu dem ge¬
dachten Punkte, oder wie ein -- endliches Geschöpf zum ewi¬
gen Schöpfer, oder nach neuerer Ansicht, wie das Exemplar
zur Gattung. Hier kommt denn die Verherrlichung der
"Menschheit" zum Vorschein, der "ewigen, unsterblichen", zu

Jedoch wozu dieſe Würdigung eines Wortes? Hielte
ſich nicht der folgenreichſte Mißverſtand von Jahrtauſenden
dahinter verſteckt, ſpukte nicht aller Spuk der beſeſſenen Men¬
ſchen in dieſem einzigen Begriffe des Wörtleins „möglich“, ſo
ſollte Uns ſeine Betrachtung hier wenig kümmern.

Der Gedanke, wurde eben gezeigt, beherrſcht die beſeſſene
Welt. Nun denn, die Möglichkeit iſt nichts anders, als die
Denkbarkeit, und der gräßlichen Denkbarkeit ſind ſeither
unzählige Opfer gefallen. Es war denkbar, daß die Men¬
ſchen vernünftig werden könnten, denkbar, daß ſie Chriſtum er¬
kennen, denkbar, daß ſie für das Gute ſich begeiſtern und
ſittlich werden, denkbar, daß ſie alle in den Schooß der Kirche
ſich flüchten, denkbar, daß ſie nichts Staatsgefährliches ſinnen,
ſprechen und thun, denkbar, daß ſie gehorſame Unterthanen
ſein könnten: darum aber, weil es denkbar war, war es —
ſo lautete der Schluß — möglich, und weiter, weil es den
Menſchen möglich war (hier eben liegt das Trügeriſche: weil
es Mir denkbar iſt, iſt es den Menſchen möglich), ſo ſoll¬
ten
ſie es ſein, ſo war es ihr Beruf; und endlich — nur
nach dieſem Berufe, nur als Berufene, hat man die Men¬
ſchen zu nehmen, nicht „wie ſie ſind, ſondern wie ſie ſein
ſollen“.

Und der weitere Schluß? Nicht der Einzelne iſt der
Menſch, ſondern ein Gedanke, ein Ideal iſt der Menſch,
zu dem der Einzelne ſich nicht einmal ſo verhält, wie das
Kind zum Manne, ſondern wie ein Kreidepunkt zu dem ge¬
dachten Punkte, oder wie ein — endliches Geſchöpf zum ewi¬
gen Schöpfer, oder nach neuerer Anſicht, wie das Exemplar
zur Gattung. Hier kommt denn die Verherrlichung der
„Menſchheit“ zum Vorſchein, der „ewigen, unſterblichen“, zu

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[441/0449] Jedoch wozu dieſe Würdigung eines Wortes? Hielte ſich nicht der folgenreichſte Mißverſtand von Jahrtauſenden dahinter verſteckt, ſpukte nicht aller Spuk der beſeſſenen Men¬ ſchen in dieſem einzigen Begriffe des Wörtleins „möglich“, ſo ſollte Uns ſeine Betrachtung hier wenig kümmern. Der Gedanke, wurde eben gezeigt, beherrſcht die beſeſſene Welt. Nun denn, die Möglichkeit iſt nichts anders, als die Denkbarkeit, und der gräßlichen Denkbarkeit ſind ſeither unzählige Opfer gefallen. Es war denkbar, daß die Men¬ ſchen vernünftig werden könnten, denkbar, daß ſie Chriſtum er¬ kennen, denkbar, daß ſie für das Gute ſich begeiſtern und ſittlich werden, denkbar, daß ſie alle in den Schooß der Kirche ſich flüchten, denkbar, daß ſie nichts Staatsgefährliches ſinnen, ſprechen und thun, denkbar, daß ſie gehorſame Unterthanen ſein könnten: darum aber, weil es denkbar war, war es — ſo lautete der Schluß — möglich, und weiter, weil es den Menſchen möglich war (hier eben liegt das Trügeriſche: weil es Mir denkbar iſt, iſt es den Menſchen möglich), ſo ſoll¬ ten ſie es ſein, ſo war es ihr Beruf; und endlich — nur nach dieſem Berufe, nur als Berufene, hat man die Men¬ ſchen zu nehmen, nicht „wie ſie ſind, ſondern wie ſie ſein ſollen“. Und der weitere Schluß? Nicht der Einzelne iſt der Menſch, ſondern ein Gedanke, ein Ideal iſt der Menſch, zu dem der Einzelne ſich nicht einmal ſo verhält, wie das Kind zum Manne, ſondern wie ein Kreidepunkt zu dem ge¬ dachten Punkte, oder wie ein — endliches Geſchöpf zum ewi¬ gen Schöpfer, oder nach neuerer Anſicht, wie das Exemplar zur Gattung. Hier kommt denn die Verherrlichung der „Menſchheit“ zum Vorſchein, der „ewigen, unſterblichen“, zu

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/449>, abgerufen am 29.03.2024.