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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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mithin auch nicht bewirkt, daß alle Menschen vernünftig leben,
sondern dieß den Menschen selbst überlassen bleiben muß, so
ist die allgemeine Vernunft für Mich nur denkbar, eine Denk¬
barkeit, als solche aber in der That eine Wirklichkeit,
die nur in Bezug auf das, was Ich nicht machen kann, näm¬
lich die Vernünftigkeit der Andern, eine Möglichkeit genannt
wird. So weit es von Dir abhängt, könnten alle Menschen
vernünftig sein, denn Du hast nichts dagegen, ja so weit dein
Denken reicht, kannst Du vielleicht auch kein Hinderniß ent¬
decken, und mithin steht auch in deinem Denken der Sache
nichts entgegen: sie ist Dir denkbar.

Aber da die Menschen nun doch nicht alle vernünftig
sind, so werden sie es auch wohl -- nicht sein können.

Ist oder geschieht etwas nicht, wovon man sich vorstellt,
es wäre doch leicht möglich, so kann man versichert sein, es
stehe der Sache etwas im Wege und sie sei -- unmöglich.
Unsere Zeit hat ihre Kunst, Wissenschaft u. s. w.: die Kunst
mag herzlich schlecht sein; darf man aber sagen, Wir verdien¬
ten eine bessere zu haben und "könnten" sie haben, wenn Wir
nur wollten? Wir haben gerade so viel Kunst, als Wir
haben können. Unsere heutige Kunst ist die dermalen einzig
mögliche
und darum wirkliche.

Selbst in dem Verstande, worauf man das Wort "mög¬
lich", zuletzt noch reduciren könnte, daß es "zukünftig" bedeute,
behält es die volle Kraft des "Wirklichen". Sagt man z. B.
Es ist möglich, daß morgen die Sonne aufgeht, -- so heißt
dieß nur: für das Heute ist das Morgen die wirkliche Zu¬
kunft; denn es bedarf wohl kaum der Andeutung, daß eine
Zukunft nur dann wirkliche "Zukunft" ist, wenn sie noch nicht
erschienen ist.

mithin auch nicht bewirkt, daß alle Menſchen vernünftig leben,
ſondern dieß den Menſchen ſelbſt überlaſſen bleiben muß, ſo
iſt die allgemeine Vernunft für Mich nur denkbar, eine Denk¬
barkeit, als ſolche aber in der That eine Wirklichkeit,
die nur in Bezug auf das, was Ich nicht machen kann, näm¬
lich die Vernünftigkeit der Andern, eine Möglichkeit genannt
wird. So weit es von Dir abhängt, könnten alle Menſchen
vernünftig ſein, denn Du haſt nichts dagegen, ja ſo weit dein
Denken reicht, kannſt Du vielleicht auch kein Hinderniß ent¬
decken, und mithin ſteht auch in deinem Denken der Sache
nichts entgegen: ſie iſt Dir denkbar.

Aber da die Menſchen nun doch nicht alle vernünftig
ſind, ſo werden ſie es auch wohl — nicht ſein können.

Iſt oder geſchieht etwas nicht, wovon man ſich vorſtellt,
es wäre doch leicht möglich, ſo kann man verſichert ſein, es
ſtehe der Sache etwas im Wege und ſie ſei — unmöglich.
Unſere Zeit hat ihre Kunſt, Wiſſenſchaft u. ſ. w.: die Kunſt
mag herzlich ſchlecht ſein; darf man aber ſagen, Wir verdien¬
ten eine beſſere zu haben und „könnten“ ſie haben, wenn Wir
nur wollten? Wir haben gerade ſo viel Kunſt, als Wir
haben können. Unſere heutige Kunſt iſt die dermalen einzig
mögliche
und darum wirkliche.

Selbſt in dem Verſtande, worauf man das Wort „mög¬
lich“, zuletzt noch reduciren könnte, daß es „zukünftig“ bedeute,
behält es die volle Kraft des „Wirklichen“. Sagt man z. B.
Es iſt möglich, daß morgen die Sonne aufgeht, — ſo heißt
dieß nur: für das Heute iſt das Morgen die wirkliche Zu¬
kunft; denn es bedarf wohl kaum der Andeutung, daß eine
Zukunft nur dann wirkliche „Zukunft“ iſt, wenn ſie noch nicht
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[440/0448] mithin auch nicht bewirkt, daß alle Menſchen vernünftig leben, ſondern dieß den Menſchen ſelbſt überlaſſen bleiben muß, ſo iſt die allgemeine Vernunft für Mich nur denkbar, eine Denk¬ barkeit, als ſolche aber in der That eine Wirklichkeit, die nur in Bezug auf das, was Ich nicht machen kann, näm¬ lich die Vernünftigkeit der Andern, eine Möglichkeit genannt wird. So weit es von Dir abhängt, könnten alle Menſchen vernünftig ſein, denn Du haſt nichts dagegen, ja ſo weit dein Denken reicht, kannſt Du vielleicht auch kein Hinderniß ent¬ decken, und mithin ſteht auch in deinem Denken der Sache nichts entgegen: ſie iſt Dir denkbar. Aber da die Menſchen nun doch nicht alle vernünftig ſind, ſo werden ſie es auch wohl — nicht ſein können. Iſt oder geſchieht etwas nicht, wovon man ſich vorſtellt, es wäre doch leicht möglich, ſo kann man verſichert ſein, es ſtehe der Sache etwas im Wege und ſie ſei — unmöglich. Unſere Zeit hat ihre Kunſt, Wiſſenſchaft u. ſ. w.: die Kunſt mag herzlich ſchlecht ſein; darf man aber ſagen, Wir verdien¬ ten eine beſſere zu haben und „könnten“ ſie haben, wenn Wir nur wollten? Wir haben gerade ſo viel Kunſt, als Wir haben können. Unſere heutige Kunſt iſt die dermalen einzig mögliche und darum wirkliche. Selbſt in dem Verſtande, worauf man das Wort „mög¬ lich“, zuletzt noch reduciren könnte, daß es „zukünftig“ bedeute, behält es die volle Kraft des „Wirklichen“. Sagt man z. B. Es iſt möglich, daß morgen die Sonne aufgeht, — ſo heißt dieß nur: für das Heute iſt das Morgen die wirkliche Zu¬ kunft; denn es bedarf wohl kaum der Andeutung, daß eine Zukunft nur dann wirkliche „Zukunft“ iſt, wenn ſie noch nicht erſchienen iſt.

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/448>, abgerufen am 24.04.2024.