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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Heiligen, so seid Ihr zahm und seine Diener. Man streue
Euch nur ein Körnchen Wahrheit in die Falle, so pickt Ihr
sicherlich darnach, und man hat den Narren gefangen. Ihr
wollt nicht lügen? Nun so fallt als Opfer der Wahrheit und
werdet -- Märtyrer! Märtyrer -- wofür? Für Euch, für
die Eigenheit? Nein, für eure Göttin, -- die Wahrheit. Ihr
kennt nur zweierlei Dienst, nur zweierlei Diener: Diener der
Wahrheit und Diener der Lüge. Dient denn in Gottes Na¬
men der Wahrheit!

Andere wieder dienen auch der Wahrheit, aber sie dienen
ihr "mit Maaß" und machen z. B. einen großen Unterschied
zwischen einer einfachen und einer beschworenen Lüge. Und
doch fällt das ganze Kapitel vom Eide mit dem von der Lüge
zusammen, da ein Eid ja nur eine stark versicherte Aussage
ist. Ihr haltet Euch für berechtigt zu lügen, wenn Ihr nur
dazu nicht noch schwört? Wer's genau nimmt, der muß eine
Lüge so hart beurtheilen und verdammen als einen falschen
Schwur. Nun hat sich aber ein uralter Streitpunkt in der
Moral erhalten, der unter dem Namen der "Nothlüge" abge¬
handelt zu werden pflegt. Niemand, der dieser das Wort zu
reden wagt, kann consequenter Weise einen "Notheid" von der
Hand weisen. Rechtfertige Ich meine Lüge als eine Nothlüge,
so sollte Ich nicht so kleinmüthig sein, die gerechtfertigte Lüge
der stärksten Bekräftigung zu berauben. Was Ich auch thue,
warum sollte Ich's nicht ganz und ohne Vorbehalt (reservatio
mentalis
) thun? Lüge Ich einmal, warum dann nicht voll¬
ständig, mit ganzem Bewußtsein und aller Kraft lügen? Als
Spion müßte Ich dem Feinde jede meiner falschen Aussagen
auf Verlangen beschwören; entschlossen, ihn zu belügen, sollte
Ich plötzlich feige und unentschlossen werden gegenüber dem

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Heiligen, ſo ſeid Ihr zahm und ſeine Diener. Man ſtreue
Euch nur ein Körnchen Wahrheit in die Falle, ſo pickt Ihr
ſicherlich darnach, und man hat den Narren gefangen. Ihr
wollt nicht lügen? Nun ſo fallt als Opfer der Wahrheit und
werdet — Märtyrer! Märtyrer — wofür? Für Euch, für
die Eigenheit? Nein, für eure Göttin, — die Wahrheit. Ihr
kennt nur zweierlei Dienſt, nur zweierlei Diener: Diener der
Wahrheit und Diener der Lüge. Dient denn in Gottes Na¬
men der Wahrheit!

Andere wieder dienen auch der Wahrheit, aber ſie dienen
ihr „mit Maaß“ und machen z. B. einen großen Unterſchied
zwiſchen einer einfachen und einer beſchworenen Lüge. Und
doch fällt das ganze Kapitel vom Eide mit dem von der Lüge
zuſammen, da ein Eid ja nur eine ſtark verſicherte Ausſage
iſt. Ihr haltet Euch für berechtigt zu lügen, wenn Ihr nur
dazu nicht noch ſchwört? Wer's genau nimmt, der muß eine
Lüge ſo hart beurtheilen und verdammen als einen falſchen
Schwur. Nun hat ſich aber ein uralter Streitpunkt in der
Moral erhalten, der unter dem Namen der „Nothlüge“ abge¬
handelt zu werden pflegt. Niemand, der dieſer das Wort zu
reden wagt, kann conſequenter Weiſe einen „Notheid“ von der
Hand weiſen. Rechtfertige Ich meine Lüge als eine Nothlüge,
ſo ſollte Ich nicht ſo kleinmüthig ſein, die gerechtfertigte Lüge
der ſtärkſten Bekräftigung zu berauben. Was Ich auch thue,
warum ſollte Ich's nicht ganz und ohne Vorbehalt (reservatio
mentalis
) thun? Lüge Ich einmal, warum dann nicht voll¬
ſtändig, mit ganzem Bewußtſein und aller Kraft lügen? Als
Spion müßte Ich dem Feinde jede meiner falſchen Ausſagen
auf Verlangen beſchwören; entſchloſſen, ihn zu belügen, ſollte
Ich plötzlich feige und unentſchloſſen werden gegenüber dem

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[403/0411] Heiligen, ſo ſeid Ihr zahm und ſeine Diener. Man ſtreue Euch nur ein Körnchen Wahrheit in die Falle, ſo pickt Ihr ſicherlich darnach, und man hat den Narren gefangen. Ihr wollt nicht lügen? Nun ſo fallt als Opfer der Wahrheit und werdet — Märtyrer! Märtyrer — wofür? Für Euch, für die Eigenheit? Nein, für eure Göttin, — die Wahrheit. Ihr kennt nur zweierlei Dienſt, nur zweierlei Diener: Diener der Wahrheit und Diener der Lüge. Dient denn in Gottes Na¬ men der Wahrheit! Andere wieder dienen auch der Wahrheit, aber ſie dienen ihr „mit Maaß“ und machen z. B. einen großen Unterſchied zwiſchen einer einfachen und einer beſchworenen Lüge. Und doch fällt das ganze Kapitel vom Eide mit dem von der Lüge zuſammen, da ein Eid ja nur eine ſtark verſicherte Ausſage iſt. Ihr haltet Euch für berechtigt zu lügen, wenn Ihr nur dazu nicht noch ſchwört? Wer's genau nimmt, der muß eine Lüge ſo hart beurtheilen und verdammen als einen falſchen Schwur. Nun hat ſich aber ein uralter Streitpunkt in der Moral erhalten, der unter dem Namen der „Nothlüge“ abge¬ handelt zu werden pflegt. Niemand, der dieſer das Wort zu reden wagt, kann conſequenter Weiſe einen „Notheid“ von der Hand weiſen. Rechtfertige Ich meine Lüge als eine Nothlüge, ſo ſollte Ich nicht ſo kleinmüthig ſein, die gerechtfertigte Lüge der ſtärkſten Bekräftigung zu berauben. Was Ich auch thue, warum ſollte Ich's nicht ganz und ohne Vorbehalt (reservatio mentalis) thun? Lüge Ich einmal, warum dann nicht voll¬ ſtändig, mit ganzem Bewußtſein und aller Kraft lügen? Als Spion müßte Ich dem Feinde jede meiner falſchen Ausſagen auf Verlangen beſchwören; entſchloſſen, ihn zu belügen, ſollte Ich plötzlich feige und unentſchloſſen werden gegenüber dem 26*

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/411>, abgerufen am 25.04.2024.