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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Weiteres, sondern "recognoscirt", wenn sie kann, das quästio¬
nirte Individuum. Ja der Staat verfährt überall ungläubig
gegen die Individuen, weil er in ihrem Egoismus seinen na¬
türlichen Feind erkennt: er verlangt durchweg einen "Ausweis",
und wer sich nicht ausweisen kann, der verfällt seiner nach¬
spürenden Inquisition. Der Staat glaubt und vertraut dem
Einzelnen nicht, und stellt sich so selbst mit ihm auf den ¬
gen-Comment: er traut Mir nur, wenn er sich von der
Wahrheit meiner Aussage überführt hat, wozu ihm oft kein
anderes Mittel bleibt als der Eid. Wie deutlich beweist auch
dieser, daß der Staat nicht auf unsere Wahrheitsliebe und
Glaubwürdigkeit rechnet, sondern auf unser Interesse, unse¬
ren Eigennutz: er verläßt sich darauf, daß Wir Uns nicht
durch einen Meineid werden mit Gott überwerfen wollen.

Nun denke man sich einen französischen Revolutionair im
Jahre 1788, der unter Freunden das bekanntgewordene Wort
fallen ließe: die Welt hat nicht eher Ruhe, als bis der letzte
König am Darm des letzten Pfaffen hängt. Damals hatte
der König noch alle Macht, und als die Aeußerung durch ei¬
nen Zufall verrathen wird, ohne daß man jedoch Zeugen auf¬
stellen kann, fordert man vom Angeklagten das Geständniß.
Soll er gestehen oder nicht? Leugnet er, so lügt er und --
bleibt straflos; gesteht er, so ist er aufrichtig und -- wird ge¬
köpft. Geht ihm die Wahrheit über Alles, wohlan so sterbe
er. Nur ein elender Dichter könnte es versuchen, aus seinem
Lebensende eine Tragödie herzustellen; denn welches Interesse
hat es, zu sehen, wie ein Mensch aus Feigheit erliegt? Hätte
er aber den Muth, kein Sklave der Wahrheit und Aufrichtig¬
keit zu sein, so würde er etwa so fragen: Wozu brauchen die
Richter zu wissen, was Ich unter Freunden gesprochen habe?

Weiteres, ſondern „recognoscirt“, wenn ſie kann, das quäſtio¬
nirte Individuum. Ja der Staat verfährt überall ungläubig
gegen die Individuen, weil er in ihrem Egoismus ſeinen na¬
türlichen Feind erkennt: er verlangt durchweg einen „Ausweis“,
und wer ſich nicht ausweiſen kann, der verfällt ſeiner nach¬
ſpürenden Inquiſition. Der Staat glaubt und vertraut dem
Einzelnen nicht, und ſtellt ſich ſo ſelbſt mit ihm auf den ¬
gen-Comment: er traut Mir nur, wenn er ſich von der
Wahrheit meiner Ausſage überführt hat, wozu ihm oft kein
anderes Mittel bleibt als der Eid. Wie deutlich beweiſt auch
dieſer, daß der Staat nicht auf unſere Wahrheitsliebe und
Glaubwürdigkeit rechnet, ſondern auf unſer Intereſſe, unſe¬
ren Eigennutz: er verläßt ſich darauf, daß Wir Uns nicht
durch einen Meineid werden mit Gott überwerfen wollen.

Nun denke man ſich einen franzöſiſchen Revolutionair im
Jahre 1788, der unter Freunden das bekanntgewordene Wort
fallen ließe: die Welt hat nicht eher Ruhe, als bis der letzte
König am Darm des letzten Pfaffen hängt. Damals hatte
der König noch alle Macht, und als die Aeußerung durch ei¬
nen Zufall verrathen wird, ohne daß man jedoch Zeugen auf¬
ſtellen kann, fordert man vom Angeklagten das Geſtändniß.
Soll er geſtehen oder nicht? Leugnet er, ſo lügt er und —
bleibt ſtraflos; geſteht er, ſo iſt er aufrichtig und — wird ge¬
köpft. Geht ihm die Wahrheit über Alles, wohlan ſo ſterbe
er. Nur ein elender Dichter könnte es verſuchen, aus ſeinem
Lebensende eine Tragödie herzuſtellen; denn welches Intereſſe
hat es, zu ſehen, wie ein Menſch aus Feigheit erliegt? Hätte
er aber den Muth, kein Sklave der Wahrheit und Aufrichtig¬
keit zu ſein, ſo würde er etwa ſo fragen: Wozu brauchen die
Richter zu wiſſen, was Ich unter Freunden geſprochen habe?

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[397/0405] Weiteres, ſondern „recognoscirt“, wenn ſie kann, das quäſtio¬ nirte Individuum. Ja der Staat verfährt überall ungläubig gegen die Individuen, weil er in ihrem Egoismus ſeinen na¬ türlichen Feind erkennt: er verlangt durchweg einen „Ausweis“, und wer ſich nicht ausweiſen kann, der verfällt ſeiner nach¬ ſpürenden Inquiſition. Der Staat glaubt und vertraut dem Einzelnen nicht, und ſtellt ſich ſo ſelbſt mit ihm auf den Lü¬ gen-Comment: er traut Mir nur, wenn er ſich von der Wahrheit meiner Ausſage überführt hat, wozu ihm oft kein anderes Mittel bleibt als der Eid. Wie deutlich beweiſt auch dieſer, daß der Staat nicht auf unſere Wahrheitsliebe und Glaubwürdigkeit rechnet, ſondern auf unſer Intereſſe, unſe¬ ren Eigennutz: er verläßt ſich darauf, daß Wir Uns nicht durch einen Meineid werden mit Gott überwerfen wollen. Nun denke man ſich einen franzöſiſchen Revolutionair im Jahre 1788, der unter Freunden das bekanntgewordene Wort fallen ließe: die Welt hat nicht eher Ruhe, als bis der letzte König am Darm des letzten Pfaffen hängt. Damals hatte der König noch alle Macht, und als die Aeußerung durch ei¬ nen Zufall verrathen wird, ohne daß man jedoch Zeugen auf¬ ſtellen kann, fordert man vom Angeklagten das Geſtändniß. Soll er geſtehen oder nicht? Leugnet er, ſo lügt er und — bleibt ſtraflos; geſteht er, ſo iſt er aufrichtig und — wird ge¬ köpft. Geht ihm die Wahrheit über Alles, wohlan ſo ſterbe er. Nur ein elender Dichter könnte es verſuchen, aus ſeinem Lebensende eine Tragödie herzuſtellen; denn welches Intereſſe hat es, zu ſehen, wie ein Menſch aus Feigheit erliegt? Hätte er aber den Muth, kein Sklave der Wahrheit und Aufrichtig¬ keit zu ſein, ſo würde er etwa ſo fragen: Wozu brauchen die Richter zu wiſſen, was Ich unter Freunden geſprochen habe?

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/405>, abgerufen am 29.03.2024.