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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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läßt Mir keine Ruhe, bis Ich Alles versucht habe, um ihn
zu trösten und aufzuheitern; sehe Ich ihn froh, so werde auch
Ich über seine Freude froh. Daraus folgt nicht, daß Mir
dieselbe Sache Leiden oder Freude verursacht, welche in ihm
diese Wirkung hervorruft, wie schon jeder körperliche Schmerz
beweist, den Ich nicht wie er fühle: ihn schmerzt sein Zahn,
Mich aber schmerzt sein Schmerz.

Weil Ich aber die kummervolle Falte auf der geliebten
Stirn nicht ertragen kann, darum, also um Meinetwillen,
küsse Ich sie weg. Liebte Ich diesen Menschen nicht, so möchte
er immerhin Falten ziehen, sie kümmerten Mich nicht; Ich ver¬
scheuche nur meinen Kummer.

Wie nun, hat irgendwer oder irgendwas, den und das
Ich nicht liebe, ein Recht darauf, von Mir geliebt zu wer¬
den? Ist meine Liebe das Erste oder ist sein Recht das Erste?
Aeltern, Verwandte, Vaterland, Volk, Vaterstadt u. s. w., end¬
lich überhaupt die Mitmenschen ("Brüder, Brüderlichkeit") be¬
haupten ein Recht auf meine Liebe zu haben und nehmen sie
ohne Weiteres in Anspruch. Sie sehen sie als ihr Eigen¬
thum
an und Mich, wenn Ich dasselbe nicht respectire, als
Räuber, der ihnen entzieht was ihnen zukommt und das Ihre
ist. Ich soll lieben. Ist die Liebe ein Gebot und Gesetz,
so muß Ich dazu erzogen, herangebildet und, wenn Ich da¬
gegen Mich vergehe, gestraft werden. Man wird daher einen
möglichst starken "moralischen Einfluß" auf Mich ausüben,
um Mich zum Lieben zu bringen. Und es ist kein Zweifel,
daß man die Menschen zur Liebe aufkitzeln und verführen kann
wie zu andern Leidenschaften, z. B. gleich zum Hasse. Der Haß
zieht sich durch ganze Geschlechter, bloß weil die Ahnen des einen
zu den Guelphen, die des andern zu den Ghibellinen gehörten.

läßt Mir keine Ruhe, bis Ich Alles verſucht habe, um ihn
zu tröſten und aufzuheitern; ſehe Ich ihn froh, ſo werde auch
Ich über ſeine Freude froh. Daraus folgt nicht, daß Mir
dieſelbe Sache Leiden oder Freude verurſacht, welche in ihm
dieſe Wirkung hervorruft, wie ſchon jeder körperliche Schmerz
beweiſt, den Ich nicht wie er fühle: ihn ſchmerzt ſein Zahn,
Mich aber ſchmerzt ſein Schmerz.

Weil Ich aber die kummervolle Falte auf der geliebten
Stirn nicht ertragen kann, darum, alſo um Meinetwillen,
küſſe Ich ſie weg. Liebte Ich dieſen Menſchen nicht, ſo möchte
er immerhin Falten ziehen, ſie kümmerten Mich nicht; Ich ver¬
ſcheuche nur meinen Kummer.

Wie nun, hat irgendwer oder irgendwas, den und das
Ich nicht liebe, ein Recht darauf, von Mir geliebt zu wer¬
den? Iſt meine Liebe das Erſte oder iſt ſein Recht das Erſte?
Aeltern, Verwandte, Vaterland, Volk, Vaterſtadt u. ſ. w., end¬
lich überhaupt die Mitmenſchen („Brüder, Brüderlichkeit“) be¬
haupten ein Recht auf meine Liebe zu haben und nehmen ſie
ohne Weiteres in Anſpruch. Sie ſehen ſie als ihr Eigen¬
thum
an und Mich, wenn Ich daſſelbe nicht reſpectire, als
Räuber, der ihnen entzieht was ihnen zukommt und das Ihre
iſt. Ich ſoll lieben. Iſt die Liebe ein Gebot und Geſetz,
ſo muß Ich dazu erzogen, herangebildet und, wenn Ich da¬
gegen Mich vergehe, geſtraft werden. Man wird daher einen
möglichſt ſtarken „moraliſchen Einfluß“ auf Mich ausüben,
um Mich zum Lieben zu bringen. Und es iſt kein Zweifel,
daß man die Menſchen zur Liebe aufkitzeln und verführen kann
wie zu andern Leidenſchaften, z. B. gleich zum Haſſe. Der Haß
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zu den Guelphen, die des andern zu den Ghibellinen gehörten.

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[38 [388]/0396] läßt Mir keine Ruhe, bis Ich Alles verſucht habe, um ihn zu tröſten und aufzuheitern; ſehe Ich ihn froh, ſo werde auch Ich über ſeine Freude froh. Daraus folgt nicht, daß Mir dieſelbe Sache Leiden oder Freude verurſacht, welche in ihm dieſe Wirkung hervorruft, wie ſchon jeder körperliche Schmerz beweiſt, den Ich nicht wie er fühle: ihn ſchmerzt ſein Zahn, Mich aber ſchmerzt ſein Schmerz. Weil Ich aber die kummervolle Falte auf der geliebten Stirn nicht ertragen kann, darum, alſo um Meinetwillen, küſſe Ich ſie weg. Liebte Ich dieſen Menſchen nicht, ſo möchte er immerhin Falten ziehen, ſie kümmerten Mich nicht; Ich ver¬ ſcheuche nur meinen Kummer. Wie nun, hat irgendwer oder irgendwas, den und das Ich nicht liebe, ein Recht darauf, von Mir geliebt zu wer¬ den? Iſt meine Liebe das Erſte oder iſt ſein Recht das Erſte? Aeltern, Verwandte, Vaterland, Volk, Vaterſtadt u. ſ. w., end¬ lich überhaupt die Mitmenſchen („Brüder, Brüderlichkeit“) be¬ haupten ein Recht auf meine Liebe zu haben und nehmen ſie ohne Weiteres in Anſpruch. Sie ſehen ſie als ihr Eigen¬ thum an und Mich, wenn Ich daſſelbe nicht reſpectire, als Räuber, der ihnen entzieht was ihnen zukommt und das Ihre iſt. Ich ſoll lieben. Iſt die Liebe ein Gebot und Geſetz, ſo muß Ich dazu erzogen, herangebildet und, wenn Ich da¬ gegen Mich vergehe, geſtraft werden. Man wird daher einen möglichſt ſtarken „moraliſchen Einfluß“ auf Mich ausüben, um Mich zum Lieben zu bringen. Und es iſt kein Zweifel, daß man die Menſchen zur Liebe aufkitzeln und verführen kann wie zu andern Leidenſchaften, z. B. gleich zum Haſſe. Der Haß zieht ſich durch ganze Geſchlechter, bloß weil die Ahnen des einen zu den Guelphen, die des andern zu den Ghibellinen gehörten.

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 38 [388]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/396>, abgerufen am 24.04.2024.