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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Lehnsmann der Menschheit, nur ein Exemplar dieser Gattung,
und handelte liebend nicht als Ich, sondern als Mensch,
als Menschenexemplar, d. h. menschlich. Der ganze Zustand
der Cultur ist das Lehnswesen, indem das Eigenthum das
des Menschen oder der Menschheit ist, nicht das meinige.
Ein ungeheurer Lehnsstaat wurde gegründet, dem Einzelnen
Alles geraubt, "dem Menschen" Alles überlassen. Der Ein¬
zelne mußte endlich als "Sünder durch und durch" erscheinen.
Soll Ich etwa an der Person des Andern keine lebendige
Theilnahme haben, soll seine Freude und sein Wohl Mir
nicht am Herzen liegen, soll der Genuß, den Ich ihm bereite,
Mir nicht über andere eigene Genüsse gehen? Im Gegen¬
theil, unzählige Genüsse kann Ich ihm mit Freuden opfern.
Unzähliges kann Ich Mir zur Erhöhung seiner Lust ver¬
sagen, und was Mir ohne ihn das Theuerste wäre, das kann
Ich für ihn in die Schanze schlagen, mein Leben, meine Wohl¬
fahrt, meine Freiheit. Es macht ja meine Lust und mein
Glück aus, Mich an seinem Glücke und seiner Lust zu laben.
Aber Mich, Mich selbst opfere Ich ihm nicht, sondern
bleibe Egoist und -- genieße ihn. Wenn ich ihm Alles opfere,
was Ich ohne die Liebe zu ihm behalten würde, so ist das
sehr einfach und sogar gewöhnlicher im Leben, als es zu sein
scheint; aber es beweist nichts weiter, als daß diese eine Lei¬
denschaft in Mir mächtiger ist, als alle übrigen. Dieser Lei¬
denschaft alle andern zu opfern, lehrt auch das Christenthum.
Opfere Ich aber einer Leidenschaft andere, so opfere Ich darum
noch nicht Mich, und opfere nichts von dem, wodurch Ich
wahrhaft Ich selber bin, nicht meinen eigentlichen Werth,
meine Eigenheit. Wo dieser schlimme Fall eintritt, da sieht's
um nichts besser mit der Liebe aus, als mit irgend welcher

Lehnsmann der Menſchheit, nur ein Exemplar dieſer Gattung,
und handelte liebend nicht als Ich, ſondern als Menſch,
als Menſchenexemplar, d. h. menſchlich. Der ganze Zuſtand
der Cultur iſt das Lehnsweſen, indem das Eigenthum das
des Menſchen oder der Menſchheit iſt, nicht das meinige.
Ein ungeheurer Lehnsſtaat wurde gegründet, dem Einzelnen
Alles geraubt, „dem Menſchen“ Alles überlaſſen. Der Ein¬
zelne mußte endlich als „Sünder durch und durch“ erſcheinen.
Soll Ich etwa an der Perſon des Andern keine lebendige
Theilnahme haben, ſoll ſeine Freude und ſein Wohl Mir
nicht am Herzen liegen, ſoll der Genuß, den Ich ihm bereite,
Mir nicht über andere eigene Genüſſe gehen? Im Gegen¬
theil, unzählige Genüſſe kann Ich ihm mit Freuden opfern.
Unzähliges kann Ich Mir zur Erhöhung ſeiner Luſt ver¬
ſagen, und was Mir ohne ihn das Theuerſte wäre, das kann
Ich für ihn in die Schanze ſchlagen, mein Leben, meine Wohl¬
fahrt, meine Freiheit. Es macht ja meine Luſt und mein
Glück aus, Mich an ſeinem Glücke und ſeiner Luſt zu laben.
Aber Mich, Mich ſelbſt opfere Ich ihm nicht, ſondern
bleibe Egoiſt und — genieße ihn. Wenn ich ihm Alles opfere,
was Ich ohne die Liebe zu ihm behalten würde, ſo iſt das
ſehr einfach und ſogar gewöhnlicher im Leben, als es zu ſein
ſcheint; aber es beweiſt nichts weiter, als daß dieſe eine Lei¬
denſchaft in Mir mächtiger iſt, als alle übrigen. Dieſer Lei¬
denſchaft alle andern zu opfern, lehrt auch das Chriſtenthum.
Opfere Ich aber einer Leidenſchaft andere, ſo opfere Ich darum
noch nicht Mich, und opfere nichts von dem, wodurch Ich
wahrhaft Ich ſelber bin, nicht meinen eigentlichen Werth,
meine Eigenheit. Wo dieſer ſchlimme Fall eintritt, da ſieht's
um nichts beſſer mit der Liebe aus, als mit irgend welcher

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[386/0394] Lehnsmann der Menſchheit, nur ein Exemplar dieſer Gattung, und handelte liebend nicht als Ich, ſondern als Menſch, als Menſchenexemplar, d. h. menſchlich. Der ganze Zuſtand der Cultur iſt das Lehnsweſen, indem das Eigenthum das des Menſchen oder der Menſchheit iſt, nicht das meinige. Ein ungeheurer Lehnsſtaat wurde gegründet, dem Einzelnen Alles geraubt, „dem Menſchen“ Alles überlaſſen. Der Ein¬ zelne mußte endlich als „Sünder durch und durch“ erſcheinen. Soll Ich etwa an der Perſon des Andern keine lebendige Theilnahme haben, ſoll ſeine Freude und ſein Wohl Mir nicht am Herzen liegen, ſoll der Genuß, den Ich ihm bereite, Mir nicht über andere eigene Genüſſe gehen? Im Gegen¬ theil, unzählige Genüſſe kann Ich ihm mit Freuden opfern. Unzähliges kann Ich Mir zur Erhöhung ſeiner Luſt ver¬ ſagen, und was Mir ohne ihn das Theuerſte wäre, das kann Ich für ihn in die Schanze ſchlagen, mein Leben, meine Wohl¬ fahrt, meine Freiheit. Es macht ja meine Luſt und mein Glück aus, Mich an ſeinem Glücke und ſeiner Luſt zu laben. Aber Mich, Mich ſelbſt opfere Ich ihm nicht, ſondern bleibe Egoiſt und — genieße ihn. Wenn ich ihm Alles opfere, was Ich ohne die Liebe zu ihm behalten würde, ſo iſt das ſehr einfach und ſogar gewöhnlicher im Leben, als es zu ſein ſcheint; aber es beweiſt nichts weiter, als daß dieſe eine Lei¬ denſchaft in Mir mächtiger iſt, als alle übrigen. Dieſer Lei¬ denſchaft alle andern zu opfern, lehrt auch das Chriſtenthum. Opfere Ich aber einer Leidenſchaft andere, ſo opfere Ich darum noch nicht Mich, und opfere nichts von dem, wodurch Ich wahrhaft Ich ſelber bin, nicht meinen eigentlichen Werth, meine Eigenheit. Wo dieſer ſchlimme Fall eintritt, da ſieht's um nichts beſſer mit der Liebe aus, als mit irgend welcher

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/394>, abgerufen am 29.03.2024.