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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Mit Sokrates nimmt die Prüfung des Herzens ihren An¬
fang, und aller Inhalt des Herzens wird gesichtet. In ihren
letzten und äußersten Anstrengungen warfen die Alten allen
Inhalt aus dem Herzen hinaus, und ließen es für Nichts
mehr schlagen: dieß war die That der Skeptiker. Dieselbe
Reinheit des Herzens wurde nun in der skeptischen Zeit errun¬
gen, welche in der sophistischen dem Verstande herzustellen ge¬
lungen war.

Die sophistische Bildung hat bewirkt, daß Einem der Ver¬
stand vor nichts mehr still steht, und die skeptische, daß das
Herz von nichts mehr bewegt wird.

So lange der Mensch in das Weltgetriebe verwickelt und
durch Beziehungen zur Welt befangen ist -- und er ist es bis
ans Ende des Alterthums, weil sein Herz immer noch um die
Unabhängigkeit von Weltlichem zu ringen hat -- so lange ist
er noch nicht Geist; denn der Geist ist körperlos und hat keine
Beziehung zur Welt und Körperlichkeit: für ihn existirt nicht
die Welt, nicht natürliche Bande, sondern nur Geistiges und
geistige Bande. Darum mußte der Mensch erst so völlig rück¬
sichtslos und unbekümmert, so ganz beziehungslos werden,
wie ihn die skeptische Bildung darstellt, so ganz gleichgültig
gegen die Welt, daß ihn ihr Einsturz selbst nicht rührte, ehe
er sich als weltlos, d. h. als Geist fühlen konnte. Und dieß
ist das Resultat von der Riesenarbeit der Alten, daß der Mensch
sich als beziehungs- und weltloses Wesen, als Geist weiß.

Nun erst, nachdem ihn alle weltliche Sorge verlassen hat,
ist er sich Alles in Allem, ist nur für sich, d. h. ist Geist für
den Geist, oder deutlicher: bekümmert sich nur um das Geistige.

In der christlichen Schlangenklugheit und Taubenunschuld
sind die beiden Seiten der antiken Geistesbefreiung, Verstand

Mit Sokrates nimmt die Prüfung des Herzens ihren An¬
fang, und aller Inhalt des Herzens wird geſichtet. In ihren
letzten und äußerſten Anſtrengungen warfen die Alten allen
Inhalt aus dem Herzen hinaus, und ließen es für Nichts
mehr ſchlagen: dieß war die That der Skeptiker. Dieſelbe
Reinheit des Herzens wurde nun in der ſkeptiſchen Zeit errun¬
gen, welche in der ſophiſtiſchen dem Verſtande herzuſtellen ge¬
lungen war.

Die ſophiſtiſche Bildung hat bewirkt, daß Einem der Ver¬
ſtand vor nichts mehr ſtill ſteht, und die ſkeptiſche, daß das
Herz von nichts mehr bewegt wird.

So lange der Menſch in das Weltgetriebe verwickelt und
durch Beziehungen zur Welt befangen iſt — und er iſt es bis
ans Ende des Alterthums, weil ſein Herz immer noch um die
Unabhängigkeit von Weltlichem zu ringen hat — ſo lange iſt
er noch nicht Geiſt; denn der Geiſt iſt körperlos und hat keine
Beziehung zur Welt und Körperlichkeit: für ihn exiſtirt nicht
die Welt, nicht natürliche Bande, ſondern nur Geiſtiges und
geiſtige Bande. Darum mußte der Menſch erſt ſo völlig rück¬
ſichtslos und unbekümmert, ſo ganz beziehungslos werden,
wie ihn die ſkeptiſche Bildung darſtellt, ſo ganz gleichgültig
gegen die Welt, daß ihn ihr Einſturz ſelbſt nicht rührte, ehe
er ſich als weltlos, d. h. als Geiſt fühlen konnte. Und dieß
iſt das Reſultat von der Rieſenarbeit der Alten, daß der Menſch
ſich als beziehungs- und weltloſes Weſen, als Geiſt weiß.

Nun erſt, nachdem ihn alle weltliche Sorge verlaſſen hat,
iſt er ſich Alles in Allem, iſt nur für ſich, d. h. iſt Geiſt für
den Geiſt, oder deutlicher: bekümmert ſich nur um das Geiſtige.

In der chriſtlichen Schlangenklugheit und Taubenunſchuld
ſind die beiden Seiten der antiken Geiſtesbefreiung, Verſtand

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[26/0034] Mit Sokrates nimmt die Prüfung des Herzens ihren An¬ fang, und aller Inhalt des Herzens wird geſichtet. In ihren letzten und äußerſten Anſtrengungen warfen die Alten allen Inhalt aus dem Herzen hinaus, und ließen es für Nichts mehr ſchlagen: dieß war die That der Skeptiker. Dieſelbe Reinheit des Herzens wurde nun in der ſkeptiſchen Zeit errun¬ gen, welche in der ſophiſtiſchen dem Verſtande herzuſtellen ge¬ lungen war. Die ſophiſtiſche Bildung hat bewirkt, daß Einem der Ver¬ ſtand vor nichts mehr ſtill ſteht, und die ſkeptiſche, daß das Herz von nichts mehr bewegt wird. So lange der Menſch in das Weltgetriebe verwickelt und durch Beziehungen zur Welt befangen iſt — und er iſt es bis ans Ende des Alterthums, weil ſein Herz immer noch um die Unabhängigkeit von Weltlichem zu ringen hat — ſo lange iſt er noch nicht Geiſt; denn der Geiſt iſt körperlos und hat keine Beziehung zur Welt und Körperlichkeit: für ihn exiſtirt nicht die Welt, nicht natürliche Bande, ſondern nur Geiſtiges und geiſtige Bande. Darum mußte der Menſch erſt ſo völlig rück¬ ſichtslos und unbekümmert, ſo ganz beziehungslos werden, wie ihn die ſkeptiſche Bildung darſtellt, ſo ganz gleichgültig gegen die Welt, daß ihn ihr Einſturz ſelbſt nicht rührte, ehe er ſich als weltlos, d. h. als Geiſt fühlen konnte. Und dieß iſt das Reſultat von der Rieſenarbeit der Alten, daß der Menſch ſich als beziehungs- und weltloſes Weſen, als Geiſt weiß. Nun erſt, nachdem ihn alle weltliche Sorge verlaſſen hat, iſt er ſich Alles in Allem, iſt nur für ſich, d. h. iſt Geiſt für den Geiſt, oder deutlicher: bekümmert ſich nur um das Geiſtige. In der chriſtlichen Schlangenklugheit und Taubenunſchuld ſind die beiden Seiten der antiken Geiſtesbefreiung, Verſtand

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/34>, abgerufen am 19.04.2024.