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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Allerdings mußte das Princip der Sophistik dahin füh¬
ren, daß der unselbständigste und blindeste Sklave seiner Be¬
gierten doch ein trefflicher Sophist sein und mit Verstandes¬
schärfe alles zu Gunsten seines rohen Herzens auslegen und
zustutzen konnte. Was gäbe es wohl, wofür sich nicht ein
"guter Grund" auffinden, und was sich nicht durchfechten ließe?

Darum sagt Sokrates: Ihr müßt "reines Herzens sein",
wenn man eure Klugheit achten soll. Von hier ab beginnt
die zweite Periode griechischer Geistesbefreiung, die Periode der
Herzensreinheit. Die erste nämlich kam durch die So¬
phisten zum Schluß, indem sie die Verstandesallmacht procla¬
mirten. Aber das Herz blieb weltlich gesinnt, blieb ein
Knecht der Welt, stets afficirt durch weltliche Wünsche. Dieß
rohe Herz sollte von nun an gebildet werden: die Zeit der
Herzensbildung. Wie aber soll das Herz gebildet werden?
Was der Verstand, diese eine Seite des Geistes, erreicht hat,
die Fähigkeil nämlich, mit und über allem Gehalt frei zu spie¬
len, das steht auch dem Herzen bevor: alles Weltliche muß
vor ihm zu Schanden werden, so daß zuletzt Familie, Gemein¬
wesen, Vaterland u. dergl. um des Herzens, d.h. der Selig¬
keit, der Seligkeit des Herzens willen, aufgegeben wird.

Alltägliche Erfahrung bestätigt es, daß der Verstand längst
einer Sache entsagt haben kann, wenn das Herz noch viele
Jahre für sie schlägt. So war auch der sophistische Verstand
über die herrschenden, alten Mächte so weit Herr geworden,
daß sie nur noch aus dem Herzen, worin sie unbelästigt hau¬
sten, verjagt werden mußten, um endlich an dem Menschen gar
kein Theil mehr zu haben.

Dieser Krieg wird von Sokrates erhoben und erreicht sei¬
nen Friedensschluß erst am Todestage der allen Welt.

Allerdings mußte das Princip der Sophiſtik dahin füh¬
ren, daß der unſelbſtändigſte und blindeſte Sklave ſeiner Be¬
gierten doch ein trefflicher Sophiſt ſein und mit Verſtandes¬
ſchärfe alles zu Gunſten ſeines rohen Herzens auslegen und
zuſtutzen konnte. Was gäbe es wohl, wofür ſich nicht ein
„guter Grund“ auffinden, und was ſich nicht durchfechten ließe?

Darum ſagt Sokrates: Ihr müßt „reines Herzens ſein“,
wenn man eure Klugheit achten ſoll. Von hier ab beginnt
die zweite Periode griechiſcher Geiſtesbefreiung, die Periode der
Herzensreinheit. Die erſte nämlich kam durch die So¬
phiſten zum Schluß, indem ſie die Verſtandesallmacht procla¬
mirten. Aber das Herz blieb weltlich geſinnt, blieb ein
Knecht der Welt, ſtets afficirt durch weltliche Wünſche. Dieß
rohe Herz ſollte von nun an gebildet werden: die Zeit der
Herzensbildung. Wie aber ſoll das Herz gebildet werden?
Was der Verſtand, dieſe eine Seite des Geiſtes, erreicht hat,
die Fähigkeil nämlich, mit und über allem Gehalt frei zu ſpie¬
len, das ſteht auch dem Herzen bevor: alles Weltliche muß
vor ihm zu Schanden werden, ſo daß zuletzt Familie, Gemein¬
weſen, Vaterland u. dergl. um des Herzens, d.h. der Selig¬
keit, der Seligkeit des Herzens willen, aufgegeben wird.

Alltägliche Erfahrung beſtätigt es, daß der Verſtand längſt
einer Sache entſagt haben kann, wenn das Herz noch viele
Jahre für ſie ſchlägt. So war auch der ſophiſtiſche Verſtand
über die herrſchenden, alten Mächte ſo weit Herr geworden,
daß ſie nur noch aus dem Herzen, worin ſie unbeläſtigt hau¬
ſten, verjagt werden mußten, um endlich an dem Menſchen gar
kein Theil mehr zu haben.

Dieſer Krieg wird von Sokrates erhoben und erreicht ſei¬
nen Friedensſchluß erſt am Todestage der allen Welt.

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[25/0033] Allerdings mußte das Princip der Sophiſtik dahin füh¬ ren, daß der unſelbſtändigſte und blindeſte Sklave ſeiner Be¬ gierten doch ein trefflicher Sophiſt ſein und mit Verſtandes¬ ſchärfe alles zu Gunſten ſeines rohen Herzens auslegen und zuſtutzen konnte. Was gäbe es wohl, wofür ſich nicht ein „guter Grund“ auffinden, und was ſich nicht durchfechten ließe? Darum ſagt Sokrates: Ihr müßt „reines Herzens ſein“, wenn man eure Klugheit achten ſoll. Von hier ab beginnt die zweite Periode griechiſcher Geiſtesbefreiung, die Periode der Herzensreinheit. Die erſte nämlich kam durch die So¬ phiſten zum Schluß, indem ſie die Verſtandesallmacht procla¬ mirten. Aber das Herz blieb weltlich geſinnt, blieb ein Knecht der Welt, ſtets afficirt durch weltliche Wünſche. Dieß rohe Herz ſollte von nun an gebildet werden: die Zeit der Herzensbildung. Wie aber ſoll das Herz gebildet werden? Was der Verſtand, dieſe eine Seite des Geiſtes, erreicht hat, die Fähigkeil nämlich, mit und über allem Gehalt frei zu ſpie¬ len, das ſteht auch dem Herzen bevor: alles Weltliche muß vor ihm zu Schanden werden, ſo daß zuletzt Familie, Gemein¬ weſen, Vaterland u. dergl. um des Herzens, d.h. der Selig¬ keit, der Seligkeit des Herzens willen, aufgegeben wird. Alltägliche Erfahrung beſtätigt es, daß der Verſtand längſt einer Sache entſagt haben kann, wenn das Herz noch viele Jahre für ſie ſchlägt. So war auch der ſophiſtiſche Verſtand über die herrſchenden, alten Mächte ſo weit Herr geworden, daß ſie nur noch aus dem Herzen, worin ſie unbeläſtigt hau¬ ſten, verjagt werden mußten, um endlich an dem Menſchen gar kein Theil mehr zu haben. Dieſer Krieg wird von Sokrates erhoben und erreicht ſei¬ nen Friedensſchluß erſt am Todestage der allen Welt.

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/33>, abgerufen am 29.03.2024.