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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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nicht an den bitteren Erfahrungen hätten lernen sollen, sich zu
fühlen
. Mit muthiger Keckheit sprechen daher die Sophi¬
sten
das ermannende Wort aus: "Laß Dich nicht verblüffen!"
und verbreiten die aufklärende Lehre: "Brauche gegen alles
Deinen Verstand, Deinen Witz, Deinen Geist; mit einem guten
und geübten Verstande kommt man am besten durch die Welt,
bereitet sich das beste Loos, das angenehmste Leben." Sie
erkennen also in dem Geiste die wahre Waffe des Menschen
gegen die Welt. Darum halten sie so viel auf dialectische
Gewandtheit, Redefertigkeit, Disputirkunst etc. Sie verkün¬
den, daß der Geist gegen Alles zu brauchen ist; aber von der
Heiligkeit des Geistes sind sie noch weit entfernt, denn er gilt
ihnen als Mittel, als Waffe, wie den Kindern List und
Trotz dazu dient: ihr Geist ist der unbestechliche Verstand.

Heutzutage würde man das eine einseitige Verstandes¬
bildung nennen und die Mahnung hinzufügen: Bildet nicht
bloß Euren Verstand, sondern besonders auch Euer Herz. Das¬
selbe that Sokrates. Wurde nämlich das Herz von seinen
natürlichen Trieben nicht frei, sondern blieb es vom zufällig¬
sten Inhalt erfüllt und als eine unkritisirte Begehrlichkeit
ganz in der Gewalt der Dinge, d. h. nichts als ein Gefäß
der verschiedensten Gelüste, so konnte es nicht fehlen, daß
der freie Verstand dem "schlechten Herzen" dienen mußte und
alles zu rechtfertigen bereit war, was das arge Herz begehrte.

Darum sagt Sokrates, es genüge nicht, daß man in
allen Dingen seinen Verstand gebrauche, sondern es komme
darauf an, für welche Sache man ihn anstrenge. Wir wür¬
den jetzt sagen: Man müsse der "guten Sache" dienen. Der
guten Sache dienen, heißt aber -- sittlich sein. Daher ist
Sokrates der Gründer der Ethik.

nicht an den bitteren Erfahrungen hätten lernen ſollen, ſich zu
fühlen
. Mit muthiger Keckheit ſprechen daher die Sophi¬
ſten
das ermannende Wort aus: „Laß Dich nicht verblüffen!“
und verbreiten die aufklärende Lehre: „Brauche gegen alles
Deinen Verſtand, Deinen Witz, Deinen Geiſt; mit einem guten
und geübten Verſtande kommt man am beſten durch die Welt,
bereitet ſich das beſte Loos, das angenehmſte Leben.“ Sie
erkennen alſo in dem Geiſte die wahre Waffe des Menſchen
gegen die Welt. Darum halten ſie ſo viel auf dialectiſche
Gewandtheit, Redefertigkeit, Disputirkunſt ꝛc. Sie verkün¬
den, daß der Geiſt gegen Alles zu brauchen iſt; aber von der
Heiligkeit des Geiſtes ſind ſie noch weit entfernt, denn er gilt
ihnen als Mittel, als Waffe, wie den Kindern Liſt und
Trotz dazu dient: ihr Geiſt iſt der unbeſtechliche Verſtand.

Heutzutage würde man das eine einſeitige Verſtandes¬
bildung nennen und die Mahnung hinzufügen: Bildet nicht
bloß Euren Verſtand, ſondern beſonders auch Euer Herz. Daſ¬
ſelbe that Sokrates. Wurde nämlich das Herz von ſeinen
natürlichen Trieben nicht frei, ſondern blieb es vom zufällig¬
ſten Inhalt erfüllt und als eine unkritiſirte Begehrlichkeit
ganz in der Gewalt der Dinge, d. h. nichts als ein Gefäß
der verſchiedenſten Gelüſte, ſo konnte es nicht fehlen, daß
der freie Verſtand dem „ſchlechten Herzen“ dienen mußte und
alles zu rechtfertigen bereit war, was das arge Herz begehrte.

Darum ſagt Sokrates, es genüge nicht, daß man in
allen Dingen ſeinen Verſtand gebrauche, ſondern es komme
darauf an, für welche Sache man ihn anſtrenge. Wir wür¬
den jetzt ſagen: Man müſſe der „guten Sache“ dienen. Der
guten Sache dienen, heißt aber — ſittlich ſein. Daher iſt
Sokrates der Gründer der Ethik.

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[24/0032] nicht an den bitteren Erfahrungen hätten lernen ſollen, ſich zu fühlen. Mit muthiger Keckheit ſprechen daher die Sophi¬ ſten das ermannende Wort aus: „Laß Dich nicht verblüffen!“ und verbreiten die aufklärende Lehre: „Brauche gegen alles Deinen Verſtand, Deinen Witz, Deinen Geiſt; mit einem guten und geübten Verſtande kommt man am beſten durch die Welt, bereitet ſich das beſte Loos, das angenehmſte Leben.“ Sie erkennen alſo in dem Geiſte die wahre Waffe des Menſchen gegen die Welt. Darum halten ſie ſo viel auf dialectiſche Gewandtheit, Redefertigkeit, Disputirkunſt ꝛc. Sie verkün¬ den, daß der Geiſt gegen Alles zu brauchen iſt; aber von der Heiligkeit des Geiſtes ſind ſie noch weit entfernt, denn er gilt ihnen als Mittel, als Waffe, wie den Kindern Liſt und Trotz dazu dient: ihr Geiſt iſt der unbeſtechliche Verſtand. Heutzutage würde man das eine einſeitige Verſtandes¬ bildung nennen und die Mahnung hinzufügen: Bildet nicht bloß Euren Verſtand, ſondern beſonders auch Euer Herz. Daſ¬ ſelbe that Sokrates. Wurde nämlich das Herz von ſeinen natürlichen Trieben nicht frei, ſondern blieb es vom zufällig¬ ſten Inhalt erfüllt und als eine unkritiſirte Begehrlichkeit ganz in der Gewalt der Dinge, d. h. nichts als ein Gefäß der verſchiedenſten Gelüſte, ſo konnte es nicht fehlen, daß der freie Verſtand dem „ſchlechten Herzen“ dienen mußte und alles zu rechtfertigen bereit war, was das arge Herz begehrte. Darum ſagt Sokrates, es genüge nicht, daß man in allen Dingen ſeinen Verſtand gebrauche, ſondern es komme darauf an, für welche Sache man ihn anſtrenge. Wir wür¬ den jetzt ſagen: Man müſſe der „guten Sache“ dienen. Der guten Sache dienen, heißt aber — ſittlich ſein. Daher iſt Sokrates der Gründer der Ethik.

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/32>, abgerufen am 28.03.2024.