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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Grenzen sollen zwischen schuldigem und unschuldigem Witze
u. s. w. gezogen werden? Die Gemäßigten kommen bei dieser
Frage in große Verlegenheit und es reducirt sich Alles auf die
Bitte, der Staat (Regierung) möge doch nicht so empfind¬
lich, so kitzlich sein; er möge in "harmlosen" Dingen nicht
gleich Böswilligkeit wittern und überhaupt ein wenig "tole¬
ranter" sein. Uebertriebene Empfindlichkeit ist allerdings eine
Schwäche, ihre Vermeidung mag eine lobenswerthe Tugend
sein; allein in Kriegszeiten kann man nicht schonend sein, und
was unter ruhigen Verhältnissen verstattet sein mag, hört auf
erlaubt zu sein, sobald der Belagerungszustand erklärt ist.
Weil dieß die wohlmeinenden Liberalen wohl fühlen, so beeilen
sie sich zu erklären, daß ja bei der "Ergebenheit des Volkes"
keine Gefahr zu fürchten sei. Die Regierung wird aber klü¬
ger sein und sich so etwas nicht einreden lassen. Sie weiß
zu gut, wie man Einen mit schönen Worten abspeist, und
wird sich an diesem Schaugerichte nicht genügen lassen.

Man will aber seinen Spielplatz haben, denn man ist ja
ein Kind und kann nicht so gesetzt sein, wie ein Alter: Ju¬
gend hat keine Tugend.

Nur um diesen Spielplatz, nur um ein Paar Stunden
lustigen Umherspringens feilscht man. Man verlangt nur, der
Staat solle nicht, wie ein griesgrämlicher Papa, allzu mürrisch
sein. Er solle einige Esels-Processionen und Narrenspiele er¬
lauben, wie im Mittelalter die Kirche sie gestattete. Die Zeiten
aber, wo er dieß ohne Gefahr gewähren konnte, sind vorüber.
Kinder, die jetzt einmal ins Freie kommen, und eine Stunde
ohne Zuchtruthe verleben, wollen nicht mehr in die Klause.
Denn das Freie ist jetzt nicht mehr eine Ergänzung zur
Klause, nicht eine erfrischende Erholung, sondern sein Ge¬

Grenzen ſollen zwiſchen ſchuldigem und unſchuldigem Witze
u. ſ. w. gezogen werden? Die Gemäßigten kommen bei dieſer
Frage in große Verlegenheit und es reducirt ſich Alles auf die
Bitte, der Staat (Regierung) möge doch nicht ſo empfind¬
lich, ſo kitzlich ſein; er möge in „harmloſen“ Dingen nicht
gleich Böswilligkeit wittern und überhaupt ein wenig „tole¬
ranter“ ſein. Uebertriebene Empfindlichkeit iſt allerdings eine
Schwäche, ihre Vermeidung mag eine lobenswerthe Tugend
ſein; allein in Kriegszeiten kann man nicht ſchonend ſein, und
was unter ruhigen Verhältniſſen verſtattet ſein mag, hört auf
erlaubt zu ſein, ſobald der Belagerungszuſtand erklärt iſt.
Weil dieß die wohlmeinenden Liberalen wohl fühlen, ſo beeilen
ſie ſich zu erklären, daß ja bei der „Ergebenheit des Volkes“
keine Gefahr zu fürchten ſei. Die Regierung wird aber klü¬
ger ſein und ſich ſo etwas nicht einreden laſſen. Sie weiß
zu gut, wie man Einen mit ſchönen Worten abſpeiſt, und
wird ſich an dieſem Schaugerichte nicht genügen laſſen.

Man will aber ſeinen Spielplatz haben, denn man iſt ja
ein Kind und kann nicht ſo geſetzt ſein, wie ein Alter: Ju¬
gend hat keine Tugend.

Nur um dieſen Spielplatz, nur um ein Paar Stunden
luſtigen Umherſpringens feilſcht man. Man verlangt nur, der
Staat ſolle nicht, wie ein griesgrämlicher Papa, allzu mürriſch
ſein. Er ſolle einige Eſels-Proceſſionen und Narrenſpiele er¬
lauben, wie im Mittelalter die Kirche ſie geſtattete. Die Zeiten
aber, wo er dieß ohne Gefahr gewähren konnte, ſind vorüber.
Kinder, die jetzt einmal ins Freie kommen, und eine Stunde
ohne Zuchtruthe verleben, wollen nicht mehr in die Klauſe.
Denn das Freie iſt jetzt nicht mehr eine Ergänzung zur
Klauſe, nicht eine erfriſchende Erholung, ſondern ſein Ge¬

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[261/0269] Grenzen ſollen zwiſchen ſchuldigem und unſchuldigem Witze u. ſ. w. gezogen werden? Die Gemäßigten kommen bei dieſer Frage in große Verlegenheit und es reducirt ſich Alles auf die Bitte, der Staat (Regierung) möge doch nicht ſo empfind¬ lich, ſo kitzlich ſein; er möge in „harmloſen“ Dingen nicht gleich Böswilligkeit wittern und überhaupt ein wenig „tole¬ ranter“ ſein. Uebertriebene Empfindlichkeit iſt allerdings eine Schwäche, ihre Vermeidung mag eine lobenswerthe Tugend ſein; allein in Kriegszeiten kann man nicht ſchonend ſein, und was unter ruhigen Verhältniſſen verſtattet ſein mag, hört auf erlaubt zu ſein, ſobald der Belagerungszuſtand erklärt iſt. Weil dieß die wohlmeinenden Liberalen wohl fühlen, ſo beeilen ſie ſich zu erklären, daß ja bei der „Ergebenheit des Volkes“ keine Gefahr zu fürchten ſei. Die Regierung wird aber klü¬ ger ſein und ſich ſo etwas nicht einreden laſſen. Sie weiß zu gut, wie man Einen mit ſchönen Worten abſpeiſt, und wird ſich an dieſem Schaugerichte nicht genügen laſſen. Man will aber ſeinen Spielplatz haben, denn man iſt ja ein Kind und kann nicht ſo geſetzt ſein, wie ein Alter: Ju¬ gend hat keine Tugend. Nur um dieſen Spielplatz, nur um ein Paar Stunden luſtigen Umherſpringens feilſcht man. Man verlangt nur, der Staat ſolle nicht, wie ein griesgrämlicher Papa, allzu mürriſch ſein. Er ſolle einige Eſels-Proceſſionen und Narrenſpiele er¬ lauben, wie im Mittelalter die Kirche ſie geſtattete. Die Zeiten aber, wo er dieß ohne Gefahr gewähren konnte, ſind vorüber. Kinder, die jetzt einmal ins Freie kommen, und eine Stunde ohne Zuchtruthe verleben, wollen nicht mehr in die Klauſe. Denn das Freie iſt jetzt nicht mehr eine Ergänzung zur Klauſe, nicht eine erfriſchende Erholung, ſondern ſein Ge¬

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/269>, abgerufen am 28.03.2024.