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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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nicht stabil werden läßt. Er macht nur den Denkproceß gegen
die Denkgläubigkeit, den Fortschritt im Denken gegen den Still¬
stand in demselben geltend. Vor der Kritik ist kein Gedanke
sicher, da sie das Denken oder der denkende Geist selber ist.

Deshalb wiederhole Ich's, daß die religiöse Welt -- und
diese ist eben die Welt der Gedanken -- in der Kritik ihre
Vollendung erreicht, indem das Denken über jeden Gedanken
übergreift, deren keiner sich "egoistisch" festsetzen darf. Wo
bliebe die "Reinheit der Kritik", die Reinheit des Denkens,
wenn auch nur Ein Gedanke sich dem Denkprocesse entzöge?
Daraus erklärt sich's, daß der Kritiker sogar hie und da
schon über den Gedanken des Menschen, der Menschheit und
Humanität leise spöttelt, weil er ahnt, daß hier ein Gedanke
sich dogmatischer Festigkeit nähere. Aber er kann diesen Ge¬
danken doch eher nicht auflösen, bis er einen -- "höheren"
gefunden hat, in welchem jener zergehe; denn er bewegt sich
eben nur -- in Gedanken. Dieser höhere Gedanke könnte als
der der Denkbewegung oder des Denkprocesses selbst, d.h. als
der Gedanke des Denkens oder der Kritik ausgesprochen werden.

Die Denkfreiheit ist hierdurch in der That vollkommen
geworden, die Geistesfreiheit feiert ihren Triumph: denn die
einzelnen, die "egoistischen" Gedanken verloren ihre dogmati¬
sche Gewaltthätigkeit. Es ist nichts übrig geblieben, als das
-- Dogma des freien Denkens oder der Kritik.

Gegen alles, was der Welt des Denkens angehört, ist
die Kritik im Rechte, d. h. in der Gewalt: sie bleibt die Sie¬
gerin. Die Kritik, und allein die Kritik "steht aus der Höhe
der Zeit". Vom Standpunkte des Gedankens aus giebt es
keine Macht, die der ihrigen überlegen zu sein vermöchte, und
es ist eine Lust, zu sehen, wie leicht und spielend dieser Drache

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nicht ſtabil werden läßt. Er macht nur den Denkproceß gegen
die Denkgläubigkeit, den Fortſchritt im Denken gegen den Still¬
ſtand in demſelben geltend. Vor der Kritik iſt kein Gedanke
ſicher, da ſie das Denken oder der denkende Geiſt ſelber iſt.

Deshalb wiederhole Ich's, daß die religiöſe Welt — und
dieſe iſt eben die Welt der Gedanken — in der Kritik ihre
Vollendung erreicht, indem das Denken über jeden Gedanken
übergreift, deren keiner ſich „egoiſtiſch“ feſtſetzen darf. Wo
bliebe die „Reinheit der Kritik“, die Reinheit des Denkens,
wenn auch nur Ein Gedanke ſich dem Denkproceſſe entzöge?
Daraus erklärt ſich's, daß der Kritiker ſogar hie und da
ſchon über den Gedanken des Menſchen, der Menſchheit und
Humanität leiſe ſpöttelt, weil er ahnt, daß hier ein Gedanke
ſich dogmatiſcher Feſtigkeit nähere. Aber er kann dieſen Ge¬
danken doch eher nicht auflöſen, bis er einen — „höheren“
gefunden hat, in welchem jener zergehe; denn er bewegt ſich
eben nur — in Gedanken. Dieſer höhere Gedanke könnte als
der der Denkbewegung oder des Denkproceſſes ſelbſt, d.h. als
der Gedanke des Denkens oder der Kritik ausgeſprochen werden.

Die Denkfreiheit iſt hierdurch in der That vollkommen
geworden, die Geiſtesfreiheit feiert ihren Triumph: denn die
einzelnen, die „egoiſtiſchen“ Gedanken verloren ihre dogmati¬
ſche Gewaltthätigkeit. Es iſt nichts übrig geblieben, als das
— Dogma des freien Denkens oder der Kritik.

Gegen alles, was der Welt des Denkens angehört, iſt
die Kritik im Rechte, d. h. in der Gewalt: ſie bleibt die Sie¬
gerin. Die Kritik, und allein die Kritik „ſteht aus der Höhe
der Zeit“. Vom Standpunkte des Gedankens aus giebt es
keine Macht, die der ihrigen überlegen zu ſein vermöchte, und
es iſt eine Luſt, zu ſehen, wie leicht und ſpielend dieſer Drache

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[195/0203] nicht ſtabil werden läßt. Er macht nur den Denkproceß gegen die Denkgläubigkeit, den Fortſchritt im Denken gegen den Still¬ ſtand in demſelben geltend. Vor der Kritik iſt kein Gedanke ſicher, da ſie das Denken oder der denkende Geiſt ſelber iſt. Deshalb wiederhole Ich's, daß die religiöſe Welt — und dieſe iſt eben die Welt der Gedanken — in der Kritik ihre Vollendung erreicht, indem das Denken über jeden Gedanken übergreift, deren keiner ſich „egoiſtiſch“ feſtſetzen darf. Wo bliebe die „Reinheit der Kritik“, die Reinheit des Denkens, wenn auch nur Ein Gedanke ſich dem Denkproceſſe entzöge? Daraus erklärt ſich's, daß der Kritiker ſogar hie und da ſchon über den Gedanken des Menſchen, der Menſchheit und Humanität leiſe ſpöttelt, weil er ahnt, daß hier ein Gedanke ſich dogmatiſcher Feſtigkeit nähere. Aber er kann dieſen Ge¬ danken doch eher nicht auflöſen, bis er einen — „höheren“ gefunden hat, in welchem jener zergehe; denn er bewegt ſich eben nur — in Gedanken. Dieſer höhere Gedanke könnte als der der Denkbewegung oder des Denkproceſſes ſelbſt, d.h. als der Gedanke des Denkens oder der Kritik ausgeſprochen werden. Die Denkfreiheit iſt hierdurch in der That vollkommen geworden, die Geiſtesfreiheit feiert ihren Triumph: denn die einzelnen, die „egoiſtiſchen“ Gedanken verloren ihre dogmati¬ ſche Gewaltthätigkeit. Es iſt nichts übrig geblieben, als das — Dogma des freien Denkens oder der Kritik. Gegen alles, was der Welt des Denkens angehört, iſt die Kritik im Rechte, d. h. in der Gewalt: ſie bleibt die Sie¬ gerin. Die Kritik, und allein die Kritik „ſteht aus der Höhe der Zeit“. Vom Standpunkte des Gedankens aus giebt es keine Macht, die der ihrigen überlegen zu ſein vermöchte, und es iſt eine Luſt, zu ſehen, wie leicht und ſpielend dieſer Drache 13 *

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/203>, abgerufen am 29.03.2024.